Alemannenschule Wutöschingen: Kann so die Zukunft des (selbstorganisierten) Lernens aussehen?

Gepostet von
Tselmeg Bayasgalanbaatar
|
20
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April 2023
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Alemannenschule Wutöschingen: Kann so die Zukunft des (selbstorganisierten) Lernens aussehen?

Lernatelier der Alemannenschule Wutöschingen (Quelle: Alemannenschule)

In einem kleinen Ort am südöstlichen Rand des Schwarzwaldes wird an der Alemannenschule Wutöschingen (ASW) das Konzept der Schule ganzheitlich anders gelebt, als es uns von klassischen Schulen in Deutschland bekannt ist. Wir möchten euch mit unserer aktuellen Themenwoche „Zukunft der Bildung“ eine Gemeinschaftsschule vorstellen, die als Vorreiter und Innovationstreiber der Bildungslandschaft seit über zehn Jahren zeigt, wie die Schule von Morgen länderübergreifend aussehen könnte.

Doch bevor wir uns der Genese dieser Schule widmen, hier zunächst ein kurzer Überblick, warum wir euch die ASW im Rahmen unserer Themenwoche “Zukunft der Bildung” vorstellen.

7 Dinge, die die Alemannenschule anders macht

  • Kein Klassenzimmer: Das selbstorganisierte Lernen soll unabhängig von Zeit und Raum stattfinden, weshalb es keine Lehrer:innen an der ASW gibt, die in einem Klassenzimmer stehen und zu getakteten Uhrzeiten einen bestimmten Stoff durchnehmen. Die Kinder können sich stattdessen an ihren Platz im Lernatelier setzen oder sich einen Platz auf dem “Marktplatz” suchen. Während das Lernatelier als Flüsterzone gilt und ihnen einen ruhigen Ort für das selbstständige und fokussierte Lernen bietet, finden sich die Lernenden am Marktplatz zu Gruppenarbeiten zusammen.
  • Keine Unterrichtsstunden: Statt Unterricht mit 45 oder 90 Minuten Blöcken gibt es kurze Lern-Inputs von 15 Minuten, wo die Teilnahme auf freiwilliger Basis erfolgt. Hier bekommen die Kinder eine Einführung in verschiedene Themenkomplexe. 
  • Keine Schulbücher: Für Englisch gibt es beispielsweise originale englische Lektüre, jedoch keine Schulbücher. Übungen oder Filme, die zur Thematik passen, werden aus dem Materialpaket entnommen und von den Lernenden eigenständig auf ihren Tablets bearbeitet.  
  • Kompetenzraster und Stempelkarte: Die Kompetenzraster sind quasi als Wegweiser der Lernlandschaft zu verstehen und dienen als Übersicht, worin nachgelesen werden kann, was alles thematisch noch ansteht und was es noch zu lernen gibt. Kinder müssen sich selbst mit den Themen beschäftigen, können jedoch mit der fachlichen oder persönlichen Unterstützung der Lernbegleiter:innen rechnen. 
  • Gelingensnachweis statt Klassenarbeiten: Jedes Kind soll nach seinem Vermögen und in seinem Tempo lernen können. Daher werden ebenfalls keine Klassenarbeiten geschrieben, stattdessen kann der oder die Lernende, von sich aus entscheiden – wenn er oder sie das Thema verstanden zu haben meint – zum Lernbegleiter zu gehen und dort einen Gelingensnachweis zu machen. Das kann ein mündlicher oder schriftlicher Test oder eine Präsentation sein. Beim Bestehen bekommt der- oder diejenige beispielsweise die Kompetenz „Bruchrechnen“ in Mathe attestiert.
  • Altersgemischt statt mit Gleichaltrigen: Es wird in Teams von drei unterschiedlichen Klassenstufen gearbeitet. 
  • Coaching-Gespräch: Jede Woche wird mindestens eine Viertelstunde gemeinsam besprochen, was die weiteren Lernschritte sein werden.

Die Vorgeschichte

2005 kam Stefan Ruppaner als Rektor an die Alemannenschule, die zu der Zeit noch als Grund- und Hauptschule galt. Zwei Jahre später stoß Ruppaner durch Zufall auf die Dokumentation “́Treibhäuser der Zukunft” ́von Reinhard Kahl. Im Film wurde darüber berichtet, wie Achtklässler selbständig lernen. Ruppaner sagt, er habe diesem Konzept am Anfang nicht viel Glauben schenken wollen und musste sich erst einmal persönlich ein Bild verschaffen. So besuchte er mit zwei weiteren Kollegen die Bodenseeschule in Friedrichshafen. Dies gab ihm Anschub, eine Veränderung in Gang zu setzen und es selbst einmal – anfangs mit einer fünften und sechsten Klasse – auszuprobieren. Dazu überzeugte Ruppaner die Gemeinde, dass kooperative Lernbereiche notwendig seien, weshalb in der oberen Etage der Schule Wände rausgerissen wurden, um das jetzige Lernatelier zu schaffen. Zu Beginn – erzählt Ruppaner – gab es nur fünf bis sechs von 30 Kolleg:innen, die mit ihm zusammen bei der Neukonzeptionierung mitgingen. Gemeinsam mit ein paar engagierten Grundschullehrer:innen, die sich bereit erklärten die fünfte und sechste Klasse zu übernehmen, der externen Hilfe des Pädagogen und Schulgründer Peter Fratton, welcher das Konzept schrieb und der Zustimmung des Bürgermeisters, begann so eine Reise die mit vielen Strukturaufbrüchen. Mittlerweile begleitet die ASW rund 900 Schüler:innen und einige sogar bis zur gymnasialen Oberstufe.

Die Rolle der Lehrkraft im Wandel – Ein typischer Alltag eines Lernbegleiters

Statt Lehrer:innen gibt es an der ASW sogenannte Lernbegleiter. Eine Umfrage ergab, dass sich zukünftig ca. 40 Prozent der Lehrer:innen in der Rolle eines Lernbegleiters sehen statt in der eines reinen Wissensvermittlers. Der Anspruch an die Lernbegleiter sind dementsprechend auch andere. Ein typischer Tagesablauf eines Lernbegleiters an der ASW könnte – laut Angaben von Herrn Ruppaner – demnach folgendermaßen aussehen:

  • 7.25 Uhr: Sportangebot oder Leitung von Chor oder Blasorchester
  • 8.15 Uhr bis 11.45 Uhr: Anwesenheit im Lernatelier, eventuell ein Input für eine Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch, Mathematik oder Englisch, Lerncoaching mit einigen Lernpartnern (Schüler:innen)
  • 11.45 Uhr bis 12.00 Uhr: Lerngruppenrat oder gemeinsame Lernzeit im Lernatelier
  • ab 13.20 Uhr bis 15.35 Uhr: entweder Clubunterricht zu einem Themenbereich (z.B. Heimat, Bienen, Bauernhof…) oder freie Planungszeit mit Anwesenheit an der Schule

Im Vergleich zu den Aufgaben, die einer klassischen Lehrrolle zukommt, unterrichtet ein Lernbegleiter in der ASW keine 27 Deputatsstunden, sondern nur noch 12 Unterrichtsstunden, berichtet uns Herr Ruppaner. Dafür ist der Lernbegleiter allerdings 35 Zeitstunden an der Schule anwesend. In dieser Zeit gibt er seine 12 Unterrichtsstunden als Input-Stunden für bestimmte Fächer oder steht als Fachcoach für Beratungen zur Verfügung. Außerhalb dieser 12 „Unterrichtsstunden“ (die eigentlich keine mehr sind) begleitet der Lernbegleiter eine Lerngruppe von 15 Lernpartnern aus drei unterschiedlichen Jahrgängen. Jeder Lernpartner bekommt dabei pro Woche mindestens 15 Minuten Lerncoaching.

Materialnetzwerk und Digitale Lernumgebung

Die Lernmaterialien sind im Materialnetzwerk (MNW) der Schule kostenlos als Open Educational Resources für das selbstorganisierte Lernen bereitgestellt. Lehrenden und Lernenden sind die Materialien frei zugänglich. Mit der Digitalen Lernumgebung (DiLer) können die Schüler:innen zudem jederzeit ihren Lernprozess dokumentieren. Bei Interesse an einer Mitgestaltung der Materialien als Autor:in, ist ein Zugang zu dem Editor nötig, für den sich alle Privatpersonen und Schulen registrieren können. Voraussetzung für das Erstellen von Materialpaketen und Einzeldokumenten ist das Bausteinprinzip, welcher die Struktur und das Layout bestimmen. Des Weiteren müssen Kriterien erfüllt werden, welche die Niveaustufen Mindest-, Regel- und Expertenstandard bedienen. Diese basieren auf der Theorie von Gerhard Ziener und gelten als Grundlage der von der ASW entwickelten Kompetenzraster. 

Laut Ansprechpartnerin Isabel Budde – zuständig für Verwaltung, Kommunikation und Koordination des Materialnetzwerkes – arbeiten aktuell bereits 40 Schulen und 1000 Lehrpersonen mit dem MNW-Editor. Darunter sei von Grundschulen bis Montessorischulen, Realschulen, Gymnasien, Gemeinschaftsschulen und Berufsschulen alles dabei. 

Finanzierung und Skeptiker

Auf die Frage wie lange es anfangs gedauert hat, bis sich die Entscheidungsträger auf ein Konzept geeinigt hatten und dieses final umsetzbar war antwortet Herr Ruppaner, dass dies in Wutöschingen kein Problem war, da er selbst seit fast 30 Jahren im Gemeinderat tätig ist. Auch die finanziellen Aspekte einer solchen Neustrukturierung sollten anderen Schulen nicht im Wege stehen, er sieht diese eher als „vorgeschobene Argumente“, da die ASW mit dem aktuellen System sogar Geld einspare und es insgesamt eindeutig günstiger ausfallen würde.

Ob es auch Tiefpunkte gab, beantwortet Ruppaner, damit dass es vor allem die Kritiker und „Angriffe von außen“ waren, die bezweifelten, ob die Ideen und Visionen alltagspraktikabel seien und ob es überhaupt funktioniere „wenn man Kinder alles machen lässt“. Er schildert, dass es an der ASW jedoch genauso Regeln und Vereinbarungen gibt, wie an jeder anderen Schule auch. Heute kann er sowohl mit der Unterstützung der Eltern als auch der Gemeinde fest rechnen. Den Erfolg reflektieren vor allem die überdurchschnittlichen Leistungen der Kinder sowie die Auszeichnung des Deutschen Schulpreises 2019

Habt ihr schon mal von der Alemannenschule Wutöschingen gehört? Wie findet ihr das Konzept des selbstorganisierten Lernens? Lasst uns gerne einen Kommentar da.

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