Holocaustvermittlung – Mehr als nur ein Kapitel im Geschichtsunterricht

Von
Armend Kokollari
|
27
.
January 2023
|
| sponsored
Holocaustvermittlung – Mehr als nur ein Kapitel im Geschichtsunterricht

Seit 1996 ist der 27. Januar in der Bundesrepublik der Holocaust-Gedenktag. Bundesweit wird an diesem Tag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Während der nationalsozialistischen Herrschaft wurden Jüd:innen und weitere ethnische Minderheiten in Gefangenschaft genommen, gefoltert und ermordet. Achtundsiebzig Jahre nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Auschwitz durch die sowjetischen Truppen, ist der Holocaust immer noch der zentrale Bezugspunkt des historischen Selbstverständnisses Deutschlands und gehört fest zum Lehrplan. Wir von Lehrer-News haben uns gefragt, wie die Schule für moderne Erinnerungskultur genutzt werden kann, da sie nahezu der einzige Sozialraum ist, den mehr oder weniger alle Menschen in Deutschland durchlaufen. Außerdem möchten wir aufzeigen welche Möglichkeiten und Herausforderungen beim Lehren und Lernen über den Holocaust zu beachten sind und wie den Schüler:innen praktische Zugänge und Methoden vorgestellt werden können.

Der Holocaust-Gedenktag fällt auf den 27. Januar 1945, da dieser die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau im von Deutschland besetzten Polen durch die Truppen der Roten Armee kennzeichnet. Es war der Ort der Vernichtung von mehr als einer Million Menschen aus ganz Europa und damit ein zentraler Ort der nationalsozialistischen Massenvernichtung. Über die gesamte NS-Herrschaft wurden schätzungsweise etwa sechs Millionen Juden und Jüdinnen ermordet. Den Bildungsminister:innen der Mitgliedsstaaten des Europarates war sehr viel daran gelegen, dieses Leid angemessen in Erinnerung zu halten, da sie im Oktober 2002 die Einführung des Gedenktages beschlossen. 

Die Grafik zeigt die geschätzte Zahl der Opfer, die durch Nationalsozialist:innen und deren Kollaborateur:innen getötet wurden. Quelle: statista

Der Themenbereich Nationalsozialismus und Holocaust ist in allen Bundesländern im Fach Geschichte bzw. – je nach Länderregelung – in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern mit einem hohen Anteil an Geschichte fest verankert und ist verpflichtender Unterrichtsgegenstand in den Jahrgangsstufen 9 oder 10, vereinzelt wird die Thematik auch in Jahrgangsstufe 8 angebahnt. Damit wird sichergestellt, dass keine Schülerin bzw. kein Schüler die Schule verlässt, ohne etwas über dieses Kapitel deutscher Geschichte erfahren zu haben. Hinzu kommt, dass das Thema auch in anderen Unterrichtsfächern, insbesondere in Deutsch und Religion/Ethik, mit einer fachspezifischen Schwerpunktsetzung besprochen wird.

Im Sekundarbereich II sind Nationalsozialismus und Holocaust in einer vertiefenden und größere Zusammenhänge aufzeigenden Weise – mit Themen wie Machterhalt, Propaganda, Funktionsweisen von Diktaturen oder die Verbindung von Juden und Christen – abermals verpflichtender Unterrichtsgegenstand. Ein Fokus auf die persönlichen Geschichten über Opfer von Verfolgung, über Flucht und Rettung eignet sich besonders gut für ein jüngeres Publikum. Ältere Schülerinnen und Schüler können bereits mit komplexeren und anspruchsvolleren Materialien arbeiten und dabei verstärkt auf geeignete Primärquellen zurückgreifen. Die Auswahl der Quellen und Lehrbücher sollte unter Bezugnahme auf diese Empfehlungen sowie unter Berücksichtigung der emotionalen Bedürfnisse und besonderen Umstände der Schüler:innen erfolgen. 

Die sprachliche Erläuterung von Begriffen unterstützt die Lernenden, Verallgemeinerungen zu vermeiden, die Unterscheidungen und Erklärungen undeutlich machen und so Missverständnissen vorzubeugen. Der Begriff „Lager“ wird zum Beispiel für eine Vielzahl von Orten und Schauplätzen verwendet. Verschiedene Lager funktionierten zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedliche Weise. Dazu gehörten unter anderem Konzentrationslager, Zwangsarbeitslager und Durchgangslager. Präzise Definitionen räumen Missverständnisse aus dem Weg und sorgen so für Genauigkeit in der Geschichtsrekonstruktion. Damit einhergehend, kann die Verwendung einer klaren Definition des Begriffs “Holocaust” (oder “Shoah”) die Verwirrung von Anfang an minimieren. Die IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) verwendet den Begriff „Holocaust“, um die staatlich organisierte systematische Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Kollaborateure zwischen 1933 und 1945 zu benennen. Einige Organisationen – sogar einige maßgebliche Institutionen – verwenden den Begriff „Holocaust“ in einem sehr weiten Sinne, so dass er alle Opfer der NS-Verfolgung umfasst. Die meisten Historikerinnen und Historiker verwenden jedoch eine präzisere Definition. Diese berücksichtigt, dass Jüdinnen und Juden in einer Weise verfolgt und ermordet wurden, die ihr Schicksal von dem anderer unterscheidet, mit der möglichen Ausnahme von Sinti und Roma. Lehrer:innen werden also dazu angehalten, zu Beginn die Definitionen klarzustellen, damit sichergestellt wird, dass ein gleichwertiges Verständnis über die Begrifflichkeiten innerhalb der Klasse besteht. Da der Holocaust sehr ambivalente Gefühle unter den Schüler:innen hervorrufen kann, sollten Lehrkräfte ihnen die Möglichkeit geben, die verschiedenen Terminologien kritisch zu hinterfragen und in gemeinsamer Runde zu diskutieren. Begriffe wie „Endlösung“ oder „Judenfrage“ beschreiben vergangene Ereignisse nicht in einer neutralen Sprache; vielmehr sind sie Euphemismen, die von den Täterinnen und Tätern im historischen Moment geschaffen und verwendet wurden, um ihre Weltsicht zu artikulieren. Derartige Begrifflichkeiten sollten dekonstruiert werden, um die unterschiedlichen Bedeutungen des Sprachgebrauchs vor, während und nach der NS-Herrschaft offenzulegen. Ein solches kritisches und reflektiertes Denken über den Holocaust, ermutigt die Schüler:innen in ihrer Fähigkeit, Holocaustleugnung oder Verharmlosung entgegenzutreten, fördert ihr gesellschaftliches Bewusstsein und die Enwicklung ihrer Persönlichkeit.

Pädagogik der Anerkennung: Perspektiven zusammenbringen

Der Holocaust war ein Wendepunkt der Weltgeschichte. Er griff über geografische Grenzen hinaus und veränderte dabei alle gesellschaftlichen Bereiche, mit denen er in Berührung kam. Auch noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ringen Gesellschaften mit den Hinterlassenschaften des Holocausts. Zu diesen Herausforderungen gehören anhaltender Antisemitismus und Xenophobie, drohende und stattfindene Völkermorde, die fortdauernde Migrationskrise und die Bedrohung vieler demokratischer Normen und Werte. Lehrer:innen werden dazu angehalten, kultursensible Unterrichtskonzepte zu entwerfen, da in den Klassenzimmern inzwischen viele unterschiedliche Geschichtsbilder und Narrative miteinander konkurrieren. Hier sitzen Jugendliche mit einer Einwanderungsgeschichte aus Ländern, die den Zweiten Weltkrieg aus ihrer jeweiligen Opfer-Perspektive erzählt bekamen. Neben ihnen sitzen Schüler:innen die dazu neigen, den Holocaust eng mit dem Nahost-Konflikt zu verbinden – etwa durch eine Täter-Opfer-Umkehr. “Begegnen Schüler mit Migrationshintergrund dem Holocaust im deutschen Geschichtsunterricht, sind ihre Zugänge sehr unterschiedlich“, sagt Viola B. Georgi, Leiterin des Zentrums für Bildungsintegration der Universität Hildesheim. Diese führen dazu, dass sich einige Schüler:innen von der deutschen Geschichte lossagen. Andere wiederum verwerfen die deutsche Geschichte mehr oder minder gleichgültig, weil es nicht “ihre” ist. Ein wertvoller Ansatz, um auf dieses komplizierte Sammelsurium an unterschiedlichen Narrativen und medialen Halbwissen vorbereitet zu sein, nennt sich Pädagogik der Anerkennung. Diese nimmt sich zum Ziel, dass sich alle Jugendlichen von den Pädagog:innen beziehungsweise Lehrer:innen anerkannt und von der Themenaufbereitung angesprochen fühlen. Wenn es um historisches Lernen geht, zählt nicht nur die Geschichte der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch die Geschichten der Einwandererfamilien. Dabei gilt es, die unterschiedlichen nationalen Narrative in die große deutsche Erzählung von Schuld und Verantwortung zu integrieren. Kinder mit Migrationsgeschichte müssen mit ihrer Perspektive auf den Holocaust als Teil der Erinnerungskultur verstanden werden und das Gefühl bekommen, dass sich Pädagog:innen für ihre Lebens- und Erinnerungswelten interessieren. Das sorgt nicht zuletzt für eine größere Dialogbereitschaft unter den Kindern sowie eine differenziertere Betrachtung der Geschehnisse durch die gemeinsame Reflexion verschiedener Lebensrealitäten.

Über die Grenzen des Geschichtsunterrichts hinaus

Letztlich können die Integration anderer Formen des Zugangs, neben dem Geschichtsunterricht, Brücken schlagen, um die Relevanz und den Kontext des Holocausts besser zu vermitteln. Sie sollen helfen, dass Schüler:innen fächerübergreifend ein besseres Verständnis für aktuelle Themen wie Antisemitismus, Diskriminierung und Ausgrenzung, Völkermord und die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit erhalten. Dies kann die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, jene Umstände zu identifizieren, die zur Aushöhlung solcher Strukturen beitragen, und über ihre eigene Rolle und Verantwortung beim Schutz dieser Prinzipien nachzudenken, um so Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen, die Massenmord den Weg bereiten können. Der Literaturwissenschaftler Peter Carrier findet, dass man ergänzend zum pädagogischen Bereich, die Literatur, die Kunst und vor allem Praxis hinzuziehen sollte. Auch die Interessenvertretung der Deutschlehrkräfte fordert, Literatur über den Holocaust stärker in der schulischen Erinnerungsarbeit zu nutzen – zum Beispiel in Form von Comics, Graphic Novels, Filmen oder digitalen Angeboten. Hier haben wir euch Spielfilme über die NS-Zeit und im Besonderen der Verfolgung und Ermordung von Juden und anderen Minderheiten verlinkt, die für den Geschichtsunterricht genutzt werden können. Die Filme sollten einerseits geschichtliches Wissen vermitteln, andererseits besteht die Gefahr, dass Dokumentationen von den Schüler:innen schnell als zu langweilig oder bieder angesehen werden können. Ein deutscher Klassiker, der an einer Schule spielt, ist und bleibt wohl “Die Welle (2008)”.

Der Film zeigt anhand eines sozialen Experimentes in einer Klasse, wie sich Strukturen verselbstständigen, wie Macht und Gewalt als Ergebnis eines Gruppenprozesses plötzlich ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickeln und verdeutlicht, wie leicht es sein kann, sich von den Ideen der Nationalsozialisten beeinflussen zu lassen. Weitere Empfehlungen sind der Spielfilm “Der Junge im gestreiften Pyjama (2008)", welcher nach der Romanvorlage von John Boyne adaptiert wurde und sich ebenso als Unterrichtslektüre anbietet. Das “Tagebuch der Anne Frank (1947)” öffnet den Schüler:innen den Zugang zu einem Werk aus der Weltliteratur und ist heute sogar als Video-Tagebuch zu sehen. Dadurch, dass das Tagebuch durch eine Kamera ersetzt wurde, können sich junge Menschen gut in die damalige Situation hineinversetzen.

Peter Carrier schlussfolgert seinen Verweis auf mehr Praxis in der Schule: “Das heißt: Gedenkstätten besuchen. “Oder einfach auf die Straße gehen und sich umschauen. In Deutschland gibt es an jeder Ecke Denkmäler, Gebäude und andere Überbleibsel, die an diese Zeit und ihre Menschen erinnert und die den Schüler:innen helfen können, sie zu sich selbst in Beziehung zu setzen”. Derartige Exkursionen bringen viel hinsichtlich der tatsächlichen Wahrnehmung des Holocaust. Ob ein Besuch eines früheren Konzentrationslagers oder die Suche nach Stolpersteinen in der Umgebung, sie unterstützen die Wahrnehmung, dass das, was sie im Geschichtsunterricht gelernt haben oder im Geschichtsbuch gelesen haben, wirklich statttgefunden hat. Diese Erfahrungen können wiederum durch einen Vortrag oder ein Gespräch mit Zeitzeugen, also Holocaust-Überlebenden die von ihren Erlebnisse berichten, verstärkt werden. Zu merken, was diese Menschen erlebt haben, dass sie möglicherweise ins Stocken kommen, plötzlich Seufzen bei der Erinnerung und man dadurch das Schreckliche möglicherweise ein bisschen erfassen kann, was diese Menschen erlebt haben. Die wenigen verbliebenen Zeitzeugen werden in den nächsten Jahren verstummen. Um gegen die Verstummung anzukämpfen, wurde unter anderem der Verein Zweitzeugen e.V. ins Leben gerufen und möchte einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten, indem sie (Über-)Lebensgeschichten der Opfer des Nationalsozialismus sammeln. Vor Kurzem durften wir die Projektleiterin Bernadette Schendina interviewen. Sie entwickelt mit ihrem Team seit 2022 digitale Geschichten von Zeitzeugen zur Weitergabe der Geschichten von Holocaust-Überlebenden. Das Interview könnt ihr hier nachlesen.

Wir hoffen, dass euch dieser Artikel einige Impulse für euren Geschichtsunterricht mitgibt und haben hierfür ergänzende Unterrichtsmaterialien rausgesucht, die euch durch eine Vielzahl an Schwerpunkten in der Holocaustvermittlung unterstützen sollen. Diese behandeln zentrale Themen aus der Geschichte des Holocausts und sind von pädagogischen Mitarbeiter:innen für die Benutzung im Klassenzimmer und der außerschulischen Bildung entwickelt worden.

Anzeige
Mehr zum Thema
Mehr vom Autor
Neuste Artikel
Kommentare