Whataboutism: Die unsichtbare Barriere für konstruktive Debatten

Von
Tabea Heinemann
|
15
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May 2024
|
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Eine Frau steht an einem Podium und schreit einem Mann über ein Megafon ins Gesicht

Whataboutism ist eine Ablenkungstaktik, bei der auf eine Kritik oder Frage durch das Anführen einer anderen Problematik reagiert wird. (Quelle: Unsplash)

Inmitten hitziger Diskussionen und Debatten ist es nicht ungewöhnlich, dass jemand plötzlich mit den Worten: “Aber was ist mit...?” um die Ecke kommt. Dieser rhetorische Kniff, der als Whataboutism bekannt ist, soll eine Diskussion von ihrem ursprünglichen Thema ablenken oder eine moralische Debatte relativieren. In den letzten Jahren ist der Begriff verstärkt in öffentlichen Diskussionen aufgetaucht – vielleicht habt ihr das Konzept sogar schon mal unbewusst selbst angewandt. Doch was genau ist Whataboutism und warum ist es wichtig, seine Mechanismen zu verstehen? In diesem Artikel werden wir uns mit diesem Phänomen auseinandersetzen und seine Auswirkungen auf Debatten und den Meinungsaustausch in der heutigen Gesellschaft beleuchten. Außerdem zeigen wir euch, wie ihr das Thema Whataboutism in euren Unterricht integrieren könnt.

Was ist Whataboutism?

Der Begriff “Whataboutism” leitet sich von der englischen Frage “What about…?” ab, zu deutsch “Was ist mit…?”. Durch Whataboutism wird versucht, einen Missstand durch den Verweis auf einen anderen zu relativieren. Statt eine kritische Frage oder ein Argument zu beantworten, wird mit einer Gegenfrage reagiert. Dieses rhetorische Mittel zielt darauf ab, die Position des Gegners zu diskreditieren, ohne seine Argumente zu widerlegen. Im Gespräch greift eine Person häufig auf Whataboutism zurück, wenn sie keine überzeugenden Argumente mehr hat, um ihre eigene Position zu verteidigen. Anstatt zuzustimmen oder ihr Unwissen einzugestehen, wechselt sie einfach das Thema. Diese plötzliche Änderung des Themas kann den/die Gesprächspartner:in überrumpeln und die bisherigen Argumente unwichtig erscheinen lassen.

Beispiele

Whataboutism war besonders während des Kalten Krieges als Propaganda-Taktik beliebt. Wenn beispielsweise die Sowjetunion öffentlich kritisiert wurde, lenkte sie den Fokus auf Probleme der USA, anstatt auf die eigene Kritik einzugehen – umgekehrt nutzten auch die USA das Mittel, um vom Vietnamkrieg abzulenken. Auch heute bedienen sich Politiker dieser Technik, um ihr Gesicht zu wahren und andere zu diskreditieren. Erinnern wir uns beispielsweise an Donald Trumps Wahlkampf. Jedes Mal, wenn er kritisiert wurde, konterte er, indem er Hillary Clinton wegen ihrer E-Mail-Affäre angriff. Trotz der Vielzahl an Skandalen, die Trump beinahe wöchentlich produzierte, blieb vor allem der Begriff "crooked Hillary" - die unehrliche Hillary Clinton - im Gedächtnis haften.

Mit Whataboutism wird häufig die Berechtigung zur Kritik infrage gestellt und der Vorwurf von Doppelmoral kommt auf. Wenn beispielsweise ein Raucher einem anderen sagt, Rauchen sei ungesund und der ihm dann vorwirft, selbst zu rauchen, ändert das nichts an der Tatsache, dass der Raucher mit seiner Aussage recht hat. 

Ein häufig gehörtes Argument in der Debatte zum Klimawandel bedient sich auch des Whataboutism: Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels im eigenen Land seien weniger effektiv, wenn andere Länder nicht mitziehen. Das ist prinzipiell nicht falsch, dennoch verlagert es den Fokus weg vom eigentlichen Problem, nämlich den Maßnahmen im Inland.

Wie erkennt man Whataboutism?

Um Whataboutism vermeiden zu können, muss man ihn zuerst erkennen. Die rhetorische Strategie ist in verschiedenen Kontexten anzutreffen, sei es in politischen Debatten, in den sozialen Medien oder auch in persönlichen Unterhaltungen. Das Muster dieses Arguments folgt generell zwei Schritten: Zunächst wird die moralische Legitimität der ursprünglichen Behauptung durch eine Gegenfrage in Frage gestellt (Schritt 1). Dadurch wird indirekt impliziert, dass die ursprüngliche Behauptung falsch oder zumindest unangebracht ist (Schritt 2), und soll somit aus der Diskussion ausgeschlossen werden. In persönlichen Gesprächen ist Whataboutism anhand der folgenden Merkmale leicht zu erkennen:

  1. Ablenkung vom Thema: Jemand stellt plötzlich eine andere Frage oder spricht ein völlig anderes Thema an, um von der ursprünglichen Diskussion abzulenken.
  2. Relativierung der ursprünglichen Behauptung: Das Gegenargument oder ein vergleichbares Beispiel hat nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Eingangsargument oder Thema zu tun. Zudem kann es schwierig sein, zum Ausgangsthema zurück zu finden, da immer wieder ausgewichen wird.
  3. Angriff auf die Person statt auf die Aussage: Wenn die Antwort darauf hinausläuft, die Moral oder Glaubwürdigkeit des Sprechers infrage zu stellen, anstatt sich mit dem eigentlichen Inhalt der Aussage auseinanderzusetzen, deutet dies auf Whataboutism hin.
  4. Fehlen einer konstruktiven Diskussion: Whataboutism zielt oft darauf ab, eine produktive Diskussion zu verhindern, indem der Fokus auf Nebensächlichkeiten oder Randthemen gelenkt wird, anstatt das Hauptthema zu behandeln. 

Wenn ihr mit euren Schüler:innen üben wollt, wie man Whataboutism erkennt, bietet es sich an, Reden von Politiker:innen zu analysieren oder die Argumente politischer Debatten oder Talkshows beispielsweise auf YouTube zu analysieren und im Plenum zu diskutieren. In Gruppenarbeit könnt ihr eure Klasse bessere Argumente oder Formulierungen finden lassen und somit den Diskurs und eigenständiges Denken anregen. Dabei solltet ihr unbedingt vermitteln, dass nicht jede Abweichung vom Thema gleich Whataboutism sein muss. Konstruktive Abweichungen können das Thema auch weiterführen und eine neue Perspektive erschließen. 

Richtig reagieren

Whataboutism hemmt die Debatte und ist nicht zielführend für den sachlichen Diskurs. Damit sich eine Diskussion daher nicht im Kreis dreht, ist es wichtig, auf der Sachebene zu bleiben und sich wieder auf das Ursprungsthema zu fokussieren. Es ist legitim, dem Gegenbeitrag im Kern zuzustimmen, jedoch anzumerken, dass er dennoch nicht zielführend für die Diskussion ist. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, vorzuschlagen, dass man das Thema zu einem anderen Zeitpunkt aufgreift oder separat diskutiert. 

Falls dem Gegenargument nicht zugestimmt wird oder es schlicht falsch ist, solltet ihr das am besten immer mit einer Quelle belegen können und auch darum bitten, die Urpsrungsdiskussion weiterzuführen. Ihr solltet jedoch darauf vorbereitet sein, dass anstelle des eigentlichen Themas der Wahrheitsgehalt des Arguments weiterdiskutiert wird. 

Vor allem im Sozialkunde- oder Politikunterricht bieten sich Debatten hervorragend an, um eine Unterrichtsstunde zum Thema Whataboutism zu gestalten. Dabei habt ihr freie Wahl, was die Themen angeht, jedoch bietet sich entweder ein aktuelles politisches, nachrichtlich präsentes Thema an oder eines, das ihr mit eurer Klasse schon behandelt habt. Lasst die Schüler:innen dazu kleine Teams bilden, Argumente sammeln und dann debattieren. Im Nachhinein kann die Debatte ausgewertet und die Argumente analysiert und eventuell verbessert werden. Infolgedessen könnt ihr eure Schüler:innen für Whataboutism sensibilisieren und ihre Diskussionsfähigkeiten stärken. 

Whataboutism in den sozialen Medien

Whataboutism beschränkt sich heutzutage nicht nur auf Politdebatten oder Talkshows, auch in den sozialen Medien erleben wir ihn ständig – sei es in Kommentarspalten unter Beiträgen auf Plattformen wie Facebook oder Instagram oder in Form von Memes. Wenn Whataboutisten Missstände nur mit anderen Missständen kontern und dabei Fakten und Meinungen vermischen, bleibt am Ende wenig Positives übrig und die Welt erscheint in einem dystopischen Licht. Dabei ist es eigentlich ärgerlich zu sehen, wie viel Zeit wir online damit verbringen, uns mit Menschen zu streiten, die uns eigentlich egal sind, über Themen, die wir am nächsten Tag bereits vergessen haben. Und oft genug haben wir dabei selbst zum Whataboutismus gegriffen und wollten mit dem Totschlagargument als vermeintlicher “Sieger” vom Platz gehen. In den meisten Fällen gilt allerdings: Wer mit solchen Totschlagargumenten kommt, will meistens gar nicht wirklich diskutieren, sonder eher vom eigenen Fehlverhalten oder Unwissenheit ablenken. 

Whataboutism im Kampf gegen Rassismus

Nachdem wir nun die Definition und die verschiedenen Erscheinungsformen des rhetorischen Mittels betrachtet haben, ist es wichtig, diese Diskussion auf ein spezifisches und drängendes Thema zu lenken: Whataboutism im Kontext von Rassismus. In den sozialen Medien und in öffentlichen Diskursen wird Whataboutism oft als Mittel eingesetzt, um Diskussionen über Rassismus zu entkräften oder abzulenken. Anstatt die zugrunde liegenden Probleme anzuerkennen und anzugehen, werden Vergleiche zu anderen Themen oder Ereignissen gezogen, um die Bedeutung oder Dringlichkeit von Rassismus herunterzuspielen.

In Gesprächen über die Benachteiligung von Minderheiten in unserer Gesellschaft hört man oft Argumente, die auf noch größere Probleme anderer Minderheiten in anderen Kulturen oder viel schlimmere Zustände in der Vergangenheit hinweisen. Wer das macht, hat zwar recht, lenkt allerdings nicht nur von der eigentlichen Problematik ab, sondern macht diese auch noch klein und kehrt sie unter den Teppich.  

Workshops sind mittlerweile ein wichtiges bildungspolitisches Instrument geworden. RISE berichtet über das Thema Whataboutism im Zusammenhang mit Rassismus in einem eintägigen Workshop im Juni 2021 mit einer Gruppe FSJler:innen zwischen 17 und 20 Jahren. Dabei stellte sich heraus, dass es für weiße Menschen oft schwer ist, einerseits Rassismus von anderen Diskriminierungsformen zu unterscheiden und andererseits den Rassismus in ihren eigenen Aussagen zu erkennen. Céline Barry, die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle bei Each One Teach One (EOTO e. V.) erzählte in einem Interview mit der Zeit: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass weiße Deutsche in Abwehrhaltung gehen, sobald das Wort Rassismus fällt. Sobald man von Rassismus spricht, stellen sich die Leute selbst als Opfer dar, das zu Unrecht beschuldigt wurde. Als Sozialwissenschaftlerin kann ich mir dieses Verhalten strukturell erklären. Es geht darum, die eigene Macht aufrechtzuerhalten.”

Neben der Herausforderung für weiße Jugendliche, ihren eigenen Alltagsrassismus zu erkennen, fällt beim Workshop auch auf, dass Whataboutism als Abwehrstrategie angewendet wird. Teilnehmer:innen greifen oft zu dazu, um von der Diskussion über strukturellen Rassismus abzulenken und stattdessen auf vermeintliche eigene Diskriminierungserfahrungen zu verweisen. Dies zeigt, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus oft mit einer Art Verteidigungsmechanismus einhergeht, der darauf abzielt, die eigene Gruppe zu entlasten und die Diskussion zu delegitimieren. Gelernte Whataboutismus-Argumentationen sind oft tief in Denk- und Erzählmustern verankert. Unbewusst reproduziert man so Alltagsrassismus. Es bedarf viel intensiver Reflexion und Austausch, um dieses Problem zu überwinden. Umso wichtiger ist es, Jugendliche nicht nur über Rassismus aufzuklären, sondern auch dazu zu befähigen, aktiv gegen ihn vorzugehen und für eine gerechtere Gesellschaft einzutreten. 

RISE stellt dazu ausführliche Begleitmaterialien für eine ganze Unterrichtsstunde zur Verfügung, die ihr in eurem Unterricht verwenden könnt, um beispielsweise im Geschichts- oder Politikunterricht auf Whataboutism im Zusammenhang mit Rassismus aufmerksam zu machen und wertvolle Diskussionen anzuregen. 

Habt ihr das Thema Whataboutism schon mal im Unterricht behandelt? Oder habt ihr noch Vorschläge, wie man das Thema gut in den Unterricht integrieren kann? Lasst es uns in den Kommentaren wissen!

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