Bildungsforscher Hattie kritisiert deutsches Schulsystem: “Ich bin bestürzt, wie viel Erfolg verloren geht”

Bildungsforscher Hattie kritisiert deutsches Schulsystem: “Ich bin bestürzt, wie viel Erfolg verloren geht”

Der weltweit bekannte Bildungsforscher John Hattie äußert in einem Interview Kritik am deutschen Bildungssystem. (Quelle: Schulwerk Augsburg)

Der renommierte neuseeländische Pädagoge John Hattie, bekannt für seine wegweisende Metastudie “Visible Learning – Lernen sichtbar machen”, übte kürzlich in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Kritik am deutschen Bildungssystem.

Im Gespräch mit der Augsburger Allgemeinen äußerten sich Hattie und Klaus Zierer, Professor für Schulpädagogik an der Uni Augsburg, zu einer von ihnen durchgeführten Studie, die Daten von über 230 Millionen Schüler:innen umfasst.

Die Studie betont die entscheidende Rolle von Lehrkräften im Bildungssystem. "Die Lehrkraft ist der wichtigste Einfluss innerhalb der Schule. Aber wir müssen das konkretisieren. Das gilt nur, wenn die Lehrkräfte die Wirkung ihres Unterrichts ständig bewerten und hinterfragen, wenn sie hohe Erwartungen haben und das Lernen aus Sicht der Schülerinnen und Schüler sehen”, erklärt Hattie. 

Laut dem Bildungsforscher ist die Art, wie eine gute Lehrkraft denkt, sogar wichtiger als das, was sie tut: “Zwei Lehrer könnten die gleiche Unterrichtsstunde halten, aber der Erfolg hängt davon ab, ob der Lehrer seine Aufgabe darin sieht, Wirkung bei allen Schülern hervorzurufen, oder ob er es als seine Aufgabe betrachtet, einfach nur sicherzustellen, dass alle Schüler die Arbeit erledigen und sich an die Anweisungen halten. Die großartigen Lehrkräfte tun Ersteres, die nicht so großartigen Letzteres”.

Des Weiteren halte die zunehmende Integration Künstlicher Intelligenz Lehrkräfte heutzutage dazu an, ihren Schüler:innen beizubringen, “beweiskräftige Fragen zu stellen, Richtig und Falsch zu bewerten und kritisch mit den Produkten künstlicher Intelligenz umzugehen”, so Hattie weiter. 

Die Hattie-Studie bleibt, neben der PISA-Studie, nach wie vor ein kontrovers diskutiertes Thema in der empirischen Bildungsforschung. Zierer erklärt, dass die Debatte, die aufgrund der schlechten PISA-Ergebnisse in diesem Jahr geführt wurde, als anschauliches Beispiel dafür dient, wie man aus den Hattie-Studien keine einfachen Schlussfolgerungen ziehen kann. Die Idee, einfach eine Stunde mehr oder weniger Unterricht zu geben und damit das Problem zu lösen, wird von John Hattie ganz anders betrachtet. Seine Kernbotschaft lautet: “Entscheidend ist die Unterrichtsqualität! Diejenigen Maßnahmen sind zu ergreifen, die helfen, dass Unterricht herausfordernder, motivierender, nachhaltiger wird. Dabei kommt man nicht umhin, über die Lehrerbildung zu sprechen, die John als notleidendste Institution weltweit sieht.” Das sei auch auf das deutsche Schulsystem übertragbar. 

Zierer kritisiert weiter, dass der Fokus des Diskurses über Unterrichtsmethoden in Deutschland zu sehr bei der Frage, was modern, was alt, was neu oder was progressiv ist, liege. “Diese Begriffe legen den Fokus nicht auf die entscheidende Frage: Ist der Unterricht gut und hat er eine hohe Wirksamkeit? Wenn eine Schule belegen kann, dass alle Schüler aufgrund des Unterrichts nicht nur gute Leistungen erzielen, sondern auch nachweislich alle Schüler deutlich an Leistung zugelegt haben, dann spricht das für den Schulentwicklungsprozess”, erläutert der Professor. 

Auf die Frage hin, ob die Heterogenität der Schülerschaft durch beispielsweise Migration und Inklusion, den Lernerfolg aller Schüler:innen schmälern könnte, antwortete Hattie: “Heterogenität ist die Norm in unserem Leben – in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft. Daher sollten Schulen dies widerspiegeln, um den Schülern und Schülerinnen die Fähigkeiten zu vermitteln, andere zu respektieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Meine Forschung beweist, dass Gruppierung und Segregation keinem Schüler zugutekommt”.

“Ich bin übrigens auch erstaunt darüber, dass das deutsche System zu wissen glaubt, was ein elf- oder zwölfjähriger Schüler im Alter von 30 Jahren können wird, und ihn entsprechend einer Schulart zuteilt. Und ich bin bestürzt darüber, wie unglaublich viel Erfolg verloren geht, indem man Kindern einen Stempel verpasst”, ergänzte er. 

Auch zu den gespaltenen Meinungen über den in vielen Bundesländern üblichen Übergang der Schüler:innen nach der vierten Klasse an eine weiterführende Schule äußerte sich Zierer. Als ehemaliger Grundschullehrer kenne er die Herausforderungen der Lehrkräfte und erzählt, dass er es zunehmend schwierig fand, allen Schüler:innen gerecht zu werden.

”Die Streuung bei den Lernleistungen geht extrem auseinander – mit zunehmendem Alter immer stärker. Auch wenn keiner weiß, was ein Mensch im Leben noch alles erreichen wird können, im Hier und Jetzt gibt es Hinweise auf Stärken und Entwicklungsbereiche. Somit bleiben im Kern nur zwei Wege: Entweder man lernt länger gemeinsam und sorgt für wirksame Differenzierung, also eine individuelle Förderung, was vor allem leistungsschwächeren Schülern zugutekommt. Oder man gliedert das Schulsystem und sorgt für wertschätzende Übergänge, wovon vor allem leistungsstärkere Schüler profitieren. Aus empirischer Sicht ist es daher eine Patt-Situation und deswegen erneut: Die Qualität im System ist wichtiger”.

Hatties Forschungen beschäftigen sich vor allem mit Einflussfaktoren auf gelingende Schüler:innenleistungen und Modellen des Lehrens und Lernens. 2009 veröffentlichte der weltweit bekannte Erziehungswissenschaftler sein Buch “Visible Learning”, in dem er die Ergebnisse von über 50.000 weltweit veröffentlichten empirischen Studien zur Frage “Wie gelingt erfolgreiches Lernen in der Schule?” zusammenfasst. Ende April stellte er in Augsburg sein neues Werk “Visible Learning 2.0” vor. Rund 300 Lehrkräfte und Lehramtsstudierende nahmen an seinem Vortrag teil, um mehr über seine neuesten Erkenntnisse zu erfahren.

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