Bildungswissenschaftler bezieht Stellung zu Kretschmer-Aussagen über "Schüler von außen"

Von
Carolin Kunkel
|
27
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October 2023
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Bildungswissenschaftler bezieht Stellung zu Kretschmer-Aussagen über "Schüler von außen"

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat mit Aussagen zur Bildungsqualität in seinem Land für Aufregung gesorgt. (Quelle: Sachsen.de, Pawel Sosnowski)

Dresden. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sieht die Bildungsqualität an Schulen in Sachsen aufgrund von Kindern mit Migrationserfahrung beeinträchtigt. Laut Sächsische.de sagte er bei einer Diskussion am Bautzener Schiller-Gymnasium: "Wir können die Qualität der Bildung nicht mehr garantieren, weil wir Schüler beschulen müssen, die von außen kommen." Von Seiten der Koalitionspartner SPD und Grüne folgte scharfe Kritik. So kritisierte die Bildungspolitikerin der SPD Sabine Friedel, dass das eigentliche Problem in der mangelnden Bildungspolitik und dem Lehrkräftemangel liege. Um die Aussagen einordnen zu lassen, hat Lehrer-News mit Marcus Pietsch gesprochen, Professor für Bildungswissenschaften mit dem Forschungsschwerpunkt Bildungsmanagement und Qualitätsentwicklung an der Leuphana Universität Lüneburg. 

Die Sachlage ist komplexer

Als Ausgangspunkt für die Analyse der Bildungsdynamiken an Schulen betont Pietsch zuallererst die Notwendigkeit einer präzisen Definition von Bildungsqualität. Mit Bildungsqualität seien die Prozesse und Ergebnisse in Bildungseinrichtungen gemeint, "die durch den jeweils spezifischen Kontext beeinflusst werden bzw. mit diesem interagieren", erklärt er. Pietsch unterstreicht, dass sich daher aufgrund der Zusammensetzung der Schülerschaft durchaus Auswirkungen auf die Bildungsqualität erwarten lassen. 

Ob diese jedoch auch durch einen Migrationshintergrund beeinflusst werden, lasse sich anhand der Forschung nicht eindeutig sagen, da die Sachlage komplex ist und bisher kaum empirische Evidenz existiert. Hier könne allerdings ein vorsichtiger Blick in die IQB-Bildungstrends geworfen werden: Sachsen beschult demnach deutlich weniger Kinder mit Migrationserfahrung als z. B. Baden-Württemberg. "Gleichwohl ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht erreichen, in etwa gleich", erklärt Pietsch. Im Fach Englisch, in dem die Effekte von Schule oftmals besonders deutlich zu erkennen seien, gebe es laut Pietsch in Baden-Württemberg sogar mehr Kinder, die die Mindeststandards erreichen. "Insofern kann man sich fragen, was Baden-Württemberg anders und gegebenenfalls sogar besser macht", so Pietsch. 

Dennoch warnt er vor voreiligen Schlüssen, da es sich nur um Beschreibungen, aber nicht um tiefergehende Analysen zu den Unterschieden beider Länder handelt.

Seines Erachtens sei aber die Frage bereits falsch formuliert, ob eine Begrenzung des Zuzugs von Migrant:innen, wie es Kretschmer unter anderem fordert, das Schulsystem verbessern würde. Denn grundsätzlich, so Pietsch, haben Kinder "ein Menschenrecht auf Bildung und sogar eines auf gute Bildung." Dies gelte universell und unabhängig von der Herkunft der Kinder. 

Für resiliente Schulen braucht es mehr

Darüber hinaus gehen die Herausforderungen für Schüler:innen mit Migrations- und Fluchterfahrung weit über sprachliche Barrieren hinaus, so Pietsch. Er hebt hervor, dass eine umfassende Unterstützung notwendig sei, um sicherzustellen, dass Schüler:innen erfolgreich in der Schule sein können. "Vor allem Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung müssen sich nicht nur an eine neue Sprache und eine andere Kultur anpassen, sondern häufig auch mit unterbrochenen Bildungswegen, dem Verlust von Freundes- und Familiennetzwerken, unsicheren Wohnverhältnissen aber auch negativen Stereotypen und Diskriminierung umgehen." Alle diese Faktoren haben einen erheblichen Einfluss auf den Lernerfolg der Kinder. 

Das deutsche Schulsystem ist aktuell mit den Folgen multipler globaler Krisen konfrontiert. Bisher seien laut Pietsch nur unzureichend Vorkehrungen für Schulen und Unterricht getroffen worden, um sie „für die Zukunft resilient“ zu machen. Der anhaltende Lehrkräftemangel stelle zum Beispiel zweifellos eine enorme Herausforderung dar, die in vielen Ländern Europas, aber insbesondere in Deutschland zu spüren ist. Dabei spiele auch eine selbst verschuldete Problematik eine Rolle. Die mangelnde Anzahl an qualifizierten Lehrkräften beeinträchtige die Qualität der Unterrichtsversorgung erheblich. Eine zentrale Frage, die sich hierbei stelle, betrifft die Vorbereitung der Lehrpersonen auf die Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen im Schulalltag. 

Als Lösungsmöglichkeit verweist Pietsch auf Forschungsergebnisse: "Internationale Studien zeigen, dass es hier hilft, Ressourcen aus anderen Quellen zu akquirieren, wenn diese in Schulen nicht ausreichend vorhanden sind. Netzwerke, Unterstützungssysteme usw. sind hier gefragt. Was auch hilft, sind Programme, die wissensbasiert die vorhandenen Herausforderungen adressieren und allen an Schule Beteiligten – und damit meine ich ausdrücklich nicht nur Lehrpersonen, sondern auch Schulleitungen, Schulaufsichten usw. – Lösungsansätze an die Hand geben, die in der Praxis umsetzbar sind und wirklich helfen." 

Langfristig sei es wichtig, belastbare Lösungen zu entwickeln, die nicht nur aktuelle Probleme bewältigen, sondern auch zukünftige Krisen abfedern können. Eine Steigerung der Innovationskraft in Schulen und Ministerien sei dabei entscheidend, ebenso wie die verstärkte Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung durch qualifiziertes Personal und Netzwerke von Expert:innen. Eine Professionalisierung von Lehrkräften, begleitet durch praxisnahe Maßnahmen wie Peer-Coachings, seien ebenfalls vielversprechend. Hierzu sei laut Pietsch eine effektive Ressourcenverteilung unumgänglich: "Alles erfordert am Ende mehr und/oder zumindest eine Umverteilung von Ressourcen im System."

In Anbetracht der komplexen Herausforderungen im deutschen Bildungssystem betonen Wissenschaftler:innen wie Marcus Pietsch die Notwendigkeit einer ganzheitlichen und ressourcenorientierten Herangehensweise. Aufgrund dieser komplexen Sachlage greift es zu kurz, bestimmte Bevölkerungsgruppen für die Probleme im Bildungssystem verantwortlich zu machen und es kann daher keine nachhaltige Lösung sein, diese vom deutschen Bildungssystem auszuschließen. Stattdessen könnten langfristige Systemreformen zielführender sein, um sowohl aktuelle als auch zukünftige Herausforderungen im Bildungswesen zu bewältigen und eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen.

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