Gendern in der Schule: Gleichberechtigung oder doch nur Sprachverhunzung?

Gendern in der Schule: Gleichberechtigung oder doch nur Sprachverhunzung?

Die Debatte um das Gendern ist in vollem Gange: In etlichen Artikeln und Talkshows, in den sozialen Medien und in der Wissenschaft wird über die Sinnhaftigkeit der Einführung von geschlechtersensibler Sprache seit Jahren leidenschaftlich diskutiert. Wir fragen uns, welche Rolle das Gendern heutzutage im Unterricht spielt oder spielen soll. Schließlich sind es die Schülerinnen und Schüler, die den Sprachwandel der Zukunft maßgeblich anstoßen und mitgestalten können. Kritische Stimmen verschiedener Ausprägungen sind tief in der Debatte verankert – viele sprechen von einer Sprachzensur oder dem Eindruck, ein Sprachkorsett auferlegt zu bekommen und führen dadurch zu vermehrten Widerstand gegen die neue Sprachform. Wir schauen auf die Entstehung des Genderns, stellen die Positionen verschiedener Befürworter:innen und Gegner:innen der geschlechtergerechten Sprache vor und möchten im Anschluss daran Empfehlungen für Schulen im weiteren Umgang mit der Thematik implizieren. 

Die Grundlagen des Genderns

Das Wort “gender” kommt aus dem Englischen und bedeutet Geschlecht. Wenn also vom “gendern” die Rede ist, geht es primär um geschlechtergerechte Sprache, mit der sich nicht nur Männer oder Frauen, sondern alle weiteren Geschlechtsidentitäten – das können intersexuelle oder auch nicht-binäre Menschen sein – angesprochen fühlen sollen. Zudem soll sie die Akzeptanz von Trans- und Intersexualität fördern. Viele Wörter in der deutschen Sprache gibt es in einer männlichen und in einer weiblichen Form, zum Beispiel: Lehrer und Lehrerin. Beim Schreiben oder Sprechen benutzen viele Menschen aber nur die männliche Form eines Wortes. Das sogenannte generische Maskulinum und zahlreiche Berufsbezeichnungen wie “Feuerwehrmann” oder “Krankenschwester” zeigen, dass unser Sprachgebrauch bis heute von stereotypen Vorstellungen über Geschlechter und den damit verbundenen Klischees geprägt ist. Gendergerechte Sprache kann verschieden aussehen: Die Nutzung von Paarformen (Schülerinnen und Schüler), neutrale Formen (Lehrkräfte) oder Genderzeichen wie dem Asterisk oder Doppelpunkt (* oder :), die im Mündlichen durch eine kurze Sprechpause ausgedrückt werden können - beim Wort Schüler:innen zum Beispiel vor dem Wortteil "-innen".

Die aufgeladene Debatte in und um Schulen

Die Stabsstelle Chancengleichheit, Diversität und Familie der Universität Leipzig findet, dass sich eine Auseinandersetzung mit geschlechtergerechter Sprache lohnt, da sie bedeutet sensibel zu sein, für verschiedene Realitäten, Differenzen und Diskriminierung. Diese Sprachsensibilität – die angesichts der soziokulturellen Vielfalt unter den Schüler:innen immer weiter zunehmen wird – kann damit zu einem wichtigen Hebel für mehr Respekt, Fairness und Anerkennung gegenüber den Mitmenschen werden. Sprache und Schrift als zentrales, wie komplexes System menschlicher Kommunikation beeinflussen unsere Wahrnehmung und Interpretation der Realität, die letztendlich in Haltungen und Verhalten resultieren. Hinzu kommen die Einstellung, Wertvorstellungen und Bedeutungen, durch die sie nicht neutral ist, und sich mit gesellschaftlichen Erwartungen und Entwicklungen verändert, so die Stabsstelle Chancengleichheit, Diversität und Familie. Sprache hat sich immer schon verändert. Während sich die Grammatik seit 200 Jahren kaum verändert hat, wandelt und wächst unser Wortschatz permanent. Wolfgang Klein, Vizepräsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sagt: “In den letzten hundert Jahren hat sich der Wortschatz, der tatsächlich verwendet wird, um fast ein Drittel vergrößert, das ist schon gigantisch''. Außerdem lässt sich bei jungen Menschen eine Vermischung der Sprache mit neu hinzukommenden Anglizismen beobachten. In dieser Entwicklung spielt das Internet eine große Rolle und bereichert den Wortschatz nachhaltig. Sie wachsen beispielsweise mit Tiktok und Youtube auf. Sie sehen und hören Menschen, die anders sind als sie. Ein kurzes Reel kann genügen, um dem Begriff „Gendern“ eine erste Kontur zu geben. Die Offenheit und Neugier junger Menschen könnte von den Lehrkräften als Potenzial gesehen werden, die sprachlichen Normen in der Schule zu reformieren. Das Deutsche Schulportal zeigt auf, wie die Schulen diese umsetzen und mit Schüler:innen an ihrer Sprachsensibilität arbeiten können. Im Fach Deutsch, aber auch zum Beispiel im Geschichtsunterricht und in den sozialwissenschaftlichen Fächern können zusammen mit den Schüler:innen viele spannende Fragen bearbeitet werden: 

In der öffentlichen Debatte kommt von der Gegenseite immer wieder der Vorwurf, Gendern wird vielen Leuten durch einer “Bildungselite”, Institutionen und Medien gegen ihren Willen aufgezwungen, fördere dadurch die Reaktanz in der Bevölkerung und schließt entgegen seiner ursprünglichen Idee Menschen aus. “Bei aller Diskussion solle auch die "pädagogische Freiheit der Lehrkräfte" berücksichtigt werden”, so Landeselternsprecherin von Rheinland-Pfalz Kirsten Hillert. Und auch die Freiheit der Schüler:innen sollte gewahrt bleiben, findet Estella McColgan von der Landesschüler:innenvertretung (LSV). Die LSV selbst nutzt den Genderstern, McColgan sieht eine mögliche Verpflichtung zu Gendersprache aber kritisch, da sie darin eine Bestimmung von oben herab sieht. Tatsächlich findet man diese Vorbehalte in diversen Umfragen wieder. Eine Befragung von Infratest Dimap hat ergeben, dass etwa zwei Drittel (65 Prozent) der Bevölkerung eine stärkere Berücksichtigung gendergerechter Sprache in Medien und Öffentlichkeit ablehnen. Gleichwohl zeigen sich Frauen, Personen mit höherer Schulbildung und die jüngere Generation grundsätzlich offener gegenüber einer gendergerechten Sprache, aber auch unter ihnen sind die Befürworter:innen gegenwärtig in der Minderheit. In einer repräsentativen Umfrage des ZDF, wie Medien sich verhalten sollen, sind ganze 71 Prozent gegen das Einfügen von Trennungszeichen oder Sprechpausen. Nur gut ein Viertel hält es für sinnvoll. Rund 73 Prozent finden Gendern nicht oder überhaupt nicht wichtig. Es bleibt also abzuwarten, welche Sprachverwendung sich durchsetzen wird, da wir gegenwärtig noch keine einheitlichen Regelungen für eine nicht diskriminierende Sprachverwendung an Schulen haben.

In den Schulen jedenfalls zeichnet sich oftmals ein hiervon abweichender Trend ab. Die Lehrerin Laura Müller, Gymnasiallehrerin in Heidenheim nutzt in ihrem Unterricht jeden Tag Binnen-"I"s und genderneutrale Sprache. Seit drei Jahren unterrichtet sie am Gymnasium. Sie habe in ihrer Zeit an der Schule gemerkt, dass es bei den Schülerinnen und Schülern sehr viel Bedarf für genderneutrale Sprache gebe. Sie führt aus: “Wir haben viele SchülerInnen, die tatsächlich auf einen zukommen und sagen: Ich möchte nicht, dass man mich 'sie' nennt, auch wenn ich vielleicht aussehe wie ein Mädchen”. Diese Entwicklungen haben bei ihr dafür gesorgt, dass sie sich intensiver mit Sprachsensibilität beschäftigt und gendersensible Ausdrucksweisen in ihrem Sprachgebrauch übernommen hat, da sie wenn sie die Chance hat diese Kinder nicht zu diskriminieren, auch einfach ein Zeichen setzen möchte. Bei ihren Schüler:innen kommt das überwiegend gut an.

Von klein auf verfestigen sich stereotype Vorstellungen von Geschlechtern – und finden durch Sprache in unsere Köpfe. Im folgenden Video wird dieses Dilemma anhand einer Grundschule in England verdeutlicht. Die Schüler:innen werden gebeten einen “firefighter, surgeon, and fighter pilot” zu malen und zeichneten daraufhin zumeist männliche Figuren. Die Reaktionen der Kinder, als daraufhin echte Vertreterinnen dieser Berufsgruppen den Raum betreten ist besonders spannend:

Wie wichtig, wie förderlich, wie erstrebenswert ist eine Sprache, die alle Geschlechter sichtbar und hörbar macht in einer Gesellschaft, die immer diverser wird und sich die Gleichberechtigung und Befreiung von stereotypen Vorstellungen dieser Geschlechter zur Aufgabe gemacht hat? Haben wir einfach wichtigere Probleme? Die Ergebnisse der aktuellen Trendstudie “Jugend in Deutschland - Sommer 2022” zeigen, dass die Überlagerung von Krisen, wie Kriege oder Klimawandel, die psychische Gesundheit junger Menschen überstrapaziert. In Zahlen stellen sich die größten Sorgen der Generation nach den Umfrageresultaten so dar: Das Thema Krieg in Europa, das 68 Prozent Sorge bereitet, ist sprunghaft an die erste Stelle getreten. Die bislang dominierende Angst vor dem Klimawandel (55 Prozent) folgt jetzt an zweiter Stelle. Auch die Sorgen vor einer Inflation (46 Prozent), einer sozialen Spaltung der Gesellschaft (40 Prozent) und einer Wirtschaftskrise (39 Prozent) bleiben präsent. Diese gewaltigen, oftmals geopolitischen Sorgen gehen mit einem Kontrollverlust einher, da insbesondere Kinder und Jugendliche keine Verantwortung für deren Entstehung tragen. Neben diesen Sorgen wirkt es fast schon pathetisch, wenn wir darüber diskutieren, ob wir jetzt von Schülern oder Schüler:innen sprechen. Um Selbstwirksamkeit zu erfahren, können junge Menschen durch den bewussten Einsatz einer geschlechtersensiblen Sprache, die letztlich nicht nur die gelebten Realitäten abbildet, sondern auch neue Wirklichkeiten schafft, in ihrem Alltag mit einem vergleichsweise geringen Aufwand, einen Beitrag zur Herstellung von Gerechtigkeit und Teilhabe leisten.

Was nehmen wir von alledem mit? 

Geschlechtergerechte Sprache ist der Versuch, alle Menschen gleichberechtigt zu adressieren und ihr Geschlecht in Wort- und Schriftsprache zu berücksichtigen und anzuerkennen. Sie hat keineswegs den Anspruch, perfekt zu sein oder gar Menschen, die sie nicht benutzen, zu tadeln oder vom gesellschaftlichen Diskurs auszuschließen. Zwar birgt sie durchaus Stolperfallen – wie die Sprache allgemein mit ihren zahlreichen Regeln zur Rechtschreibung und Grammatik. Dennoch zeigt die Realität und nicht zuletzt die aufgeladenen Diskussionen rund um das Gendern, dass Sprache im Unterricht und in den Lehrplänen einen größeren Raum einnehmen muss, da sie nicht nur Wirklichkeit abbildet, sondern diese auch prägt. Es geht nicht um Vorschriften, sondern darum, einen sensiblen und kreativen Umgang mit Sprache zu erfahren – denn es gibt nicht die diskriminierungsfreie Sprache.  Besonders Schulen können darin eine Möglichkeit sehen, in der Ansprache und Einbindung ihrer vielfältigen Schüler:innen und Mitarbeitenden sämtliche Geschlechterpositionen anzuerkennen. Schließlich vollzieht sich unser Denken in Sprache, die Welt bildet sich in Wörtern ab, das meiste, was wir wissen, wissen wir nur vermittelt über Sprache. Auswirkungen durch den Gebrauch einer nicht sensiblen Sprache müssen ernst genommen werden, indem die Schüler:innen lernen zu reflektieren, welche tiefreichenden Botschaften in den Worten die sie tagtäglich verwenden stecken und wie es für alle gelingt, unter Einhaltung der pädagogischen Freiheit von Lehrkräften und der persönlichen Entwicklung der Schüler:innen, diese Lebenswirklichkeiten gemeinsam im Unterricht zu leben.

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