Schule für alle: Wie zukunftsfähig ist das Gymnasium?

Schule für alle: Wie zukunftsfähig ist das Gymnasium?

Im Rahmen unserer letzten Themenwoche haben wir uns ausführlich dem Thema Inklusion gewidmet. Dabei warfen wir einen besonderen Blick auf die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserem Schulsystem. Eine ganzheitliche Inklusion bedeutet jedoch, dass alle Schüler:innen eine gleichberechtigte Teilnahme am Bildungsprozess erleben. In unserem aktuellen Schulsystem ist jedoch noch immer eine hochangesehene Schulform fest verankert, die – so sagen jedenfalls ihre Gegner:innen – einem langfristig inklusiv wirkenden Schulsystem den Weg versperrt: Das Gymnasium. Einige Kritiker:innen fordern die Abschaffung des Gymnasiums , andere sind gemäßigter und sprechen sich für eine Umstrukturierung der Zulassungskriterien aus, manche wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. In diesem Artikel setzen wir uns mit den Argumenten aller Lager auseinander und versuchen zu beantworten, wie zukunftsträchtig das Gymnasium ist.

Differenzierung und Förderung: Die Vorteile des Gymnasiums

Die ursprüngliche Idee des dreigliedrigen Schulsystems leuchtet zunächst ein : Nach der Grundschule entscheiden die bisherigen Leistungen und kognitiven Voraussetzungen der Kinder über ihren weiteren schulischen Werdegang. Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. „Nicht alle Kinder können auf dem gleichen Weg zum gleichen Ziel gelangen. Sie haben verschiedene Begabungen, unterschiedliche Stärken und Schwächen. Deshalb ist eine Differenzierung erforderlich. Die individuelle Förderung jedes Kindes ist nur über ein vielfältiges schulisches Angebot möglich, das alle zu ihren jeweils besten Leistungen führt“, argumentiert beispielsweise die ehemalige hessische Kultusministerin Karin Wolff.

Ein anderes Argument für die Beibehaltung der Gymnasien nennt die ehemalige FDP-Landeschefin Baden-Württembergs, Birgit Homburger. Sie vertritt die These, Deutschland würde seine Stellung in Bereichen Forschung, Innovation und Entwicklung riskieren , wenn Gymnasien flächendeckend durch Gesamtschulen ersetzt werden.

Was würde passieren, wenn die klassische gymnasiale Schulform entfallen würde? Wäre es förderlich für das Schulklima und das Selbstbewusstsein der Kinder, wenn große Scheren in der erbrachten Leistung stetig aufgezeigt würden? Es könnte häufiger zu Rückstufungen führen, wenn das Niveau der Kinder innerhalb einer Klasse auseinanderklafft. Und wenn es darum geht, das Gymnasium abzuschaffen, um das allgemeine Niveau der schulischen Bildung zu erhöhen – da es ja gerade in den bei PISA-Tests so erfolgreichen Nationen einheitliche Schulsysteme gibt – wäre es dann nicht sinnvoller individuellere, schülernahe Hilfe anzubieten, mehr Fachpersonal zur Verfügung zu stellen, als das ganze System über Bord zu werfen?

Dass das Gymnasium und damit das Abitur der ruhmvolle und somit erstrebenswerte Weg ist, lässt einen anderen Schulabschluss oft als gesellschaftlich weniger anerkannt erscheinen. Aber das ist kein allein dem Schulsystem inhärentes und folglich vorzuwerfendes Problem. Es geht darum, dass es nicht-akademischen Berufen – denen häufig eben kein Besuch eines Gymnasiums zuvorkommt – an gesellschaftlicher und auch politischer Wertschätzung fehlt. Wenn in Zeiten des Fachkräftemangels auch andere Berufe wieder höheres öffentliches Ansehen genießen, könnte sich vielleicht auch die Debatte um die Sinnhaftigkeit von Gymnasien legen.

Frühe Selektion: Die Nachteile des Gymnasiums

Ein offensichtliches Problem am gegenwärtigen Zustand des Gymnasiums ist die frühe Selektion. Nach nur vier Jahren Grundschule und im Alter von zarten zehn Jahren wird über die Kinder entschieden, welcher Schulform sie für eine Zeit, die fast so lang wie ihr bisheriges Leben ist, angehören sollen. Problematisch ist nicht nur, dass sich die kognitive Entwicklung dann erst in einem anfänglichen Stadium befindet und eine faire Beurteilung über die kommende Schulzeit somit extrem vage ist, sondern auch, dass viele Kinder womöglich gar nicht über die unglaublich große Tragweite dieser wichtigen Entscheidung wissen.

Bei gleichen intellektuellen Voraussetzungen sprechen Lehrkräfte in der Regel Gymnasialempfehlungen an Kinder aus, die zuhause von ihren Eltern umfassender gefördert werden können, also meist aus abgesicherten Akademikerkreisen kommen. Soziale Gerechtigkeit wird klein geschrieben.

Auch die Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) kritisiert das Gymnasium in seiner aktuellen Form. Durch das G8-Modell und hohe inhaltliche Vorgaben an die Schüler:innen entsteht bereits ab der fünften Klasse ein hoher Druck, der dazu führt, dass viele in diesem System nicht bestehen können. Um den hohen Anforderungen gerecht zu werden, ist häufig ein stupides Einpauken der Unterrichtsstoffe nötig, die nach den Prüfungen sofort vergessen werden, da schon wieder die nächste Wissensabfrage naht. Eine nachhaltige Vermittlung der Unterrichtsinhalte ist häufig wegen des großen Zeitdrucks gar nicht möglich. Die GEW spricht sich deshalb für weniger zeitlichen Druck aus und fordert, dass Bildungswege lange offengehalten werden sollen, damit möglichst viele hohe Bildungsabschlüsse entstehen.

Bei einer Betrachtung der deutschen PISA-Ergebnisse über die letzten Jahre wird erkenntlich, dass Schüler:innen an Gymnasien häufig bessere Ergebnisse erzielen als Gesamtschüler:innen. Das ist – Bildungsforscher Jürgen Baumert zufolge –  unter anderem darauf zurückzuführen, dass Lehrkräfte an Gymnasien in der Regel besser ausgebildet sind. Darüber hinaus ist der Bildungsforscher der Meinung, dass Schüler:innen an Gymnasien „mehrfach privilegiert seien“, da auch Verhaltensauffälligkeiten unter den Schüler:innen seltener vorkommen.

Ob es, um jedes Kind seinen Voraussetzungen nach bestmöglich zu bilden, eine vollumfängliche Revolution unseres Schulsystems braucht, ist eine andere Frage. Die IGLU-Studie zur Lesekompetenz  hat zuletzt ergeben , dass die Probleme häufig viel früher sitzen. Auch der bundesweite Lehrkräftemangel stellt wohl für ein intaktes Schulsystem ein größeres Problem dar. Aber, dass das Gymnasium reformbedürftig ist, lässt sich schwer abstreiten. Es liegt an der Politik, sich mit Experten der Bildungslandschaft zusammenzusetzen, um eine Schulform zu schaffen, die jedem Kind gerecht wird und die soziale Durchmischung fördert. Ob das unter dem Begriff “Gymnasium” passiert, ist eigentlich zweitrangig.

Was ist eure Meinung? Lasst es uns gerne in den Kommentaren wissen!

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