Zwischen Effizienz und pädagogischer Wirksamkeit: Ein Blick auf Vietnams Bildungssystem

Von
Carolin Kunkel
|
20
.
October 2023
|
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Zwischen Effizienz und pädagogischer Wirksamkeit: Ein Blick auf Vietnams Bildungssystem

Der Văn Miếu Tempel in der Hauptstadt Hanoi war lange Zeit das Zentrum der Bildung (Quelle: Canva).

Stufenförmige Reisfelder, Garküchen auf dem Bürgersteig, majestätische Tempel und Pagoden, unzählige Mopeds und ein florierendes Bildungssystem – mit seinen jüngsten Errungenschaften im Bildungsbereich offenbart Vietnam eine weitere seiner vielfältigen Facetten. Das südostasiatische Land belegte laut Google Destination Insight dieses Jahr den siebten Platz der beliebtesten Reiseziele weltweit, was sicherlich nicht zuletzt auf seinen kulinarischen und kulturellen Reichtum zurückzuführen ist. Währenddessen übertreffen die herausragenden schulischen Leistungen vietnamesischer Schüler:innen Länder wie Malaysia und Thailand, aber auch die etwa sechsmal wohlhabenderen Länder Kanada und Großbritannien, wie die Wochenzeitung The Economist berichtet. Diese Tatsache macht das Land, das geografisch zwischen China, Laos und Kambodscha liegt, zu einem faszinierenden Beispiel für Bildungserfolg und wirft Fragen auf, die wir innerhalb unserer Reihe „Bildungssysteme der Welt“ näher beleuchten möchten. Wie funktioniert das vietnamesische Bildungssystem? Und welche Faktoren tragen zum pädagogischen Erfolg bei?

Von Khổng Phu Tử bis Đổi Mới: Der historische Wandel des vietnamesischen Bildungssystems

Ähnlich wie Kuba, zu dessen Bildungswesen wir bereits berichtet haben, ist auch Vietnam ein kommunistisch geprägtes Land, das sich jedoch Ende des 20. Jahrhunderts für die Welt öffnete. Während der Vietnamkrieg vielen als schreckliches Bild im Gedächtnis haftet, hat das Land historisch gesehen viel mehr zu bieten. Seine lange ereignisreiche Geschichte ist beispielsweise untrennbar mit der Wertschätzung von Bildung verknüpft. 

„Lerne, als könntest du das Wissen nie erreichen und als fürchtest du es wieder zu verlieren”, soll Konfuzius gesagt haben. Er drückte damit aus, dass Bildung für ihn bereits ein Gut an sich und kein Mittel zum Zweck war. Nach der konfuzianischen Philosophie, die auch Vietnam prägt, stellt Bildung nicht nur reinen Wissenserwerb dar, sie führt gar erst zur Menschwerdung. Ein Meilenstein in dieser Tradition war die Gründung der ersten Nationalakademie vor knapp 1000 Jahren in der heutigen Hauptstadt Hanoi unter der Herrschaft der Lý-Dynastie. Der Văn Miếu Tempel, auch bekannt als Literaturtempel, diente nicht nur der Verehrung Konfuzius‘, sondern auch als Zentrum für die Ausbildung künftiger Eliten, die stark in den Verwaltungsapparat des Staates eingebunden waren. Jedoch war der Zugang zur Bildung damals nur Männern gestattet. Erfolgreiche Absolventen, die den begehrten Titel „Tiến Sĩ” erlangten – vietnamesisch für „herausragender Gelehrter”, wurden in ihren Heimatdörfern als Stolz der Gemeinschaft gefeiert. 

Doch auch die Besetzung Vietnams durch die Kolonialmacht Frankreich im 19. Jahrhundert hinterließ Spuren im Bildungswesen. Um lokale Fachkräfte als untertänige, aber qualifizierte Kolonialverwaltungen einsetzen zu können, entwickelte Frankreich ein koloniales Bildungssystem, das die Strukturen der konfuzianischen Bildung zersetzen sollte. Später nutzten antikoloniale Bewegungen die französische Bildung, sozialistische und nationalistische Ideen erlebten regen Zulauf, was schließlich zur Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1945 und den Unabhängigkeitskriegen der Việt Minh gegen die französischen Kolonialherren führte. Auch der bekannteste Revolutionär der Unabhängigkeitsbewegung und Staatsgründer, Hồ Chí Minh, betonte die Wichtigkeit von Wissen: „Um den Nutzen für zehn Jahre zu sichern, müssen wir Bäume pflanzen – um hundert Jahre Nutzen zu erzielen, müssen wir die Menschen kultivieren“.

Allerdings war nach dem Ende des Krieges das Land und somit auch das Bildungswesen in zwei geteilt: Die Demokratische Republik Vietnam im Norden entwickelte ein sozialistisches Bildungssystem nach sowjetischem Vorbild, während die Republik Vietnam im Süden sich am französischen und US-amerikanischen Bildungsmodell orientierte. Trotz des Anspruchs, die gesamte vietnamesische Bevölkerung mit Bildung zu versorgen, blieb vor allem die ländliche Bevölkerung weitgehend ausgeschlossen. Nach der Wiedervereinigung des Landes wurde 1976 die Sozialistische Republik Vietnam gegründet. Im Zuge dessen konnte auch das öffentliche Bildungssystem vereinheitlicht und erweitert werden. Jedoch lag der Fokus direkt nach dem Krieg vor allem auf Umerziehung und Alphabetisierung. Eine umfassende Bildungsreform vereinte später private und staatliche Einrichtungen in einem Grundbildungssystem und führte zu einer drastischen Erhöhung der Einschulungsquote. Bald stieß das Bildungssystem allerdings an seine Grenzen, da es an Ressourcen und Infrastruktur mangelte. Als Antwort auf die anhaltende Wirtschaftskrise öffnete sich Vietnam schrittweise für den globalen Markt in den 1980er Jahren (vn. Đổi Mới ‚Erneuerung‘). Im Bereich der Bildung wurden erstmals nichtstaatliche Bildungsangebote eingeführt. Seit Beginn der Reformen hat Vietnam sowohl sein Bildungssystem als auch seinen Blickwinkel auf Bildung erheblich erweitert, um mit globalen Entwicklungen Schritt halten zu können.

Von Effektivität und Bildungsbewusstsein geprägt: Vietnams Bildungssystem heute

Doch wie sieht das Bildungssystem in Vietnam heute aus und was macht es so erfolgreich mit Blick auf die schulischen Leistungen? Grundsätzlich gibt es ein dreistufiges Schulwesen, das im Aufbau dem deutschen Gymnasium ähnelt und zwölf Jahre umfasst. Die Primarstufe dauert bis zur fünften Klasse und ist seit 1991 für jede:n Vietnames:in verpflichtend, wodurch die Alphabetisierungsrate in den vergangenen Jahrzehnten auf beeindruckende 96 Prozent angehoben werden konnte. Auch müssen die Eltern für den Besuch der Grundschule keine Schulgebühren bezahlen. Daran angeschlossen wird die Sekundarstufe I, die von der sechsten bis zur neunten Klasse besucht wird. Nach erfolgreichem Abschluss der Sekundarstufe II (10.–12. Klasse) können Schüler:innen eine Ausbildung beginnen oder an den Aufnahmeprüfungen der Universitäten teilnehmen. 

Gerade in den ersten Schuljahren übertreffen vietnamesische Kinder ihre indischen, peruanischen oder äthiopischen Altersgenossen und profitieren von engagierten Lehrkräften, wie eine Studie der European Economic Association von 2020 herausgefunden hat. Vietnamesische Lehrkräfte müssen sich regelmäßigen Trainings und Fortbildungen unterziehen und werden anhand der Leistungen ihrer Schüler:innen bewertet. Sind diese besonders fleißig, erhält die Lehrkraft einen Exzellenz-Titel und wird mit ähnlichem Stolz wie damals die Gelehrten für die Gemeinschaft gefeiert. Außerdem werden dem Lehrpersonal gewisse Freiheiten in der Unterrichtsgestaltung zugestanden, was für innovative und  ansprechende Stunden sorgen kann, ohne durch einen strikten Lehrplan allzu sehr zu binden. Trotzdem werden die Lehrpläne und -standards regelmäßig aktualisiert und inhaltlich durch Bildungsrichtlinien vorgegeben. Anders als in der Vergangenheit haben Männer und Frauen im heutigen Vietnam gleichermaßen Zugang zu Bildung. Die Ergebnisse der Studie zeigen außerdem, dass Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern nicht in dem Ausmaß zum Tragen kommen wie in anderen Ländern. Um die Diskrepanz im Bildungsniveau zwischen den Städten und auf dem Land auszugleichen und den Lehrerberuf attraktiver zu machen, sorgt die Regierung für höhere Bezahlung in ländlichen Gebieten. Trotz der Erfolge gibt es im vietnamesischen Bildungssystem noch immer Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt.

Hürden und Herausforderungen: Vietnams Bildungssystem im Spannungsfeld politischer Einflüsse

Dass Vietnam seit Jahren einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt, schuf zwar viele Erleichterungen und brachte neue Möglichkeiten, kommt andererseits aber einer Zerreißprobe für das Bildungssystem gleich. Die Nachfrage von Unternehmen nach Arbeitnehmer:innen mit ausgefeilten Fähigkeiten wie Teammanagement ist groß, daher besteht ein Bedarf, die Bildungsinhalte und Lehrmethoden anzupassen. Obwohl eine angeglichene Bezahlung für Lehrkräfte auf dem Land berücksichtigt wird, bleibt die Gesamtvergütung oft niedriger als bei Jobs im privaten Sektor, was dazu führt, dass immer mehr Lehrende den Bildungsbereich verlassen. Gleichzeitig sind die städtischen Schulen zunehmend überlastet, da immer mehr Menschen vom Land in die Städte ziehen. Bei der Regierung Vietnams handelt es sich zudem um eine kommunistische Einparteienregierung, die den Fokus stark auf Bildung legt. Abgesehen von Anreizen für gute Leistungen übt die kommunistische Partei durch mögliche Sanktionen auch einen starken Druck auf das Bildungssystem aus. Da viele Schulleiter:innen Parteimitglieder sind, besteht sogar die Möglichkeit, in Ungnade zu fallen. Auch bleibt der Einfluss der Kommunistischen Partei Vietnams auf die Inhalte und Richtlinien des Bildungssektors fragwürdig. Dennoch erzielt das System beachtliche Erfolge, die dem engagierten Einsatz von Lehrkräften und Familien sowie einer gelungenen Verbindung von Tradition und Modernität geschuldet sind. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und den steigenden Anforderungen an die Bildung steht das Land jedoch vor der Herausforderung, ein ausgewogenes Gleichgewicht zu finden, das sowohl den wirtschaftlichen und politischen Ansprüchen gerecht wird als auch eine offene, vielfältige und kritische Bildung fördert.

„Có học có khôn” – Das vietnamesische Sprichwort reflektiert das allgemeine gesellschaftliche Verständnis von Bildung: Bildest du dich, wirst du weise – eine Tugend. Bis heute spiegelt sich das humanistische Bildungsideal des klassischen Konfuzianismus und der Einfluss der bewegten vietnamesischen Geschichte im Bildungswesen wider. Als „Kultur mit konfuzianischem Erbe“ verkörpert Vietnam nicht nur kulturelle Pracht, sondern auch ein tief verwurzeltes Streben nach Wissen und Bildung, das zukünftige Entwicklungen weiter beeinflussen wird.

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