Deutsch-polnisches Geschichtsbuch vor dem Aus

Von
Leon Noel Gärtner
|
23
.
June 2023
|
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Deutsch-polnisches Geschichtsbuch vor dem Aus

Leibniz. Das Projekt “Europa – Unsere Geschichte” war ein Versuch, eine neue Art der  Geschichtsstunde ins Leben zu rufen, die länderübergreifend und innovativ sein sollte. Bis heute wurden vier Bände über die Deutsch-Polnische Geschichte veröffentlicht. Die einzelnen Epochen der Bücher erstrecken sich vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Jedoch droht nun ein Ende des Projekts aufgrund eines Boykotts seitens der polnischen Regierung.

Die Geschichte zwischen Deutschland und Polen ist genauso langwierig wie kompliziert.  1970 deuteten sich erste Besserungen an, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettoaufstandes 1943 niederkniete: Eine symbolische Geste, die Reue über die vergangenen Kriegsverbrechen zum Ausdruck brachte. Durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag am 14. November 1990 wurde dann das Ende der Nachkriegszeit besiegelt. Alles kleine Puzzlestücke in einer faszinierenden länderübergreifenden Geschichte, die Schüler:innen in den vier Bänden nachlesen können. 

Die Idee dazu kam vonseiten der damaligen deutschen und polnischen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Radoslaw Sikorski. Angespornt vom Erfolg eines deutsch-fränzösischen Schulbuchs im Jahr 2006, sah Steinmeier auch Potenzial für ein Buch über die deutsch-polnische Geschichte: “Vielleicht ist es nicht unmöglich, mittelfristig auch ein gemeinsames deutsch-polnisches Geschichtsbuch zu erarbeiten, das uns hilft, uns gegenseitig besser zu verstehen." Des Weiteren sah Steinmeier darin eine Gelegenheit zu zeigen, dass Deutschland offen für die polnische Sichtweise auf die Geschichte ist. 

2008 wurde der Startschuss zur Arbeit gegeben, an der polnische und deutsche Historiker:innen und Didaktiker:innen beteiligt waren, sowie die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission, welche schon seit 1972 Schulbücher in Deutschland und Polen von nationalsozialistischen Inhalten säubert. Der erste Band zum Mittelalter wurde 2016 veröffentlicht und die Serie wurde 2020 mit dem vierten Band, rund um die Inhalte des Zweiten Weltkriegs, abgeschlossen. Bei dem finalen Band –  über eines der wohl beschämendsten Zeitalter der Weltgeschichte – kam es jedoch zu Problemen. In Deutschland wurde Band Vier ohne Probleme in fast allen Bundesländern, bis auf Bayern, zugelassen und sogar mit dem Schulbuchpreis 2021 ausgezeichnet. Polen hingegen zeigte sich weniger befürwortend. Band Vier ist zwar nicht verboten, jedoch nahm die Regierung eine starke Blockadehaltung zum Lehrbuch ein. Gutachten von der polnischen Regierung fielen negativ aus, sowie Kritiken polnischer Experten und eine Mitwirkung an der Organisation der öffentlichen Präsentation wurde verweigert. Das Buch ist nicht Teil der für den Unterricht empfohlenen Titel.  

Der genau Grund für die Problematik ist der Faktor, um den es beim Projekt von Anfang an ging: Multiperspektivität. Verschiedene Sichtweisen wurden von manchen als wertvoll empfunden, ecken aber nun bei polnischen Komitees an.

Ein Stein des Anstoßes ist eine Passage zum Warschauer Aufstand vom August 1944. 

Der polnische Historiker Robert Traba, ehemaliger Ko-Vorsitzender der gemeinsamen Schulbuchkommission, kritisiert unter anderem seinen Kollegen Grzegorz Kucharczyk. Kucharczyk, der als Kommentator der nationalistisch-katholischen Medien Radio Maryja und Nasz Dziennik bekannt ist. Kucharczyk habe laut Traba lediglich “seine Vision der Geschichtspolitik präsentiert” anstatt ehrlich Kritik zu üben.

Weitere Gründe für die Blockadehaltung hängen wahrscheinlich auch mit der stark veränderten politischen Stimmung im Land zusammen. Die nationalpopulistische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), setzte schon seit längerem auf antideutsche Meinungen, insbesondere auf weitere Reparationszahlungen. Die stärkere national-katholische Meinung ist auch im Erziehungsministerium seit 2020 verstärkt durch Bildungsminister Przemyslaw Czarnek, ebenfalls Mitglied der PiS und welcher in der vergangenheit aufgefallen ist durch starke Anfeindungen von LGBT+ Gruppen und vergleichen dieser mit Neomarxismus und Nazi-Nationalsolzialismus. 

Der kommerzielle Erfolg grenzt an eine Katastrophe. Waldemar Czerniszewski, Direktor des polnischen Schulbuchverlages Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne (WSiP), erklärt: “Wir haben seit Erscheinen des letzten Bandes im Jahre 2020 gerade mal 1.000 Exemplare verkauft“.

Insgesamt kostete das Unterfangen über drei Millionen Euro. Es bleibt abzuwarten, ob das Projekt doch noch einen Anklang in den Schulen beider Länder findet, oder ob das länderübergreifende Passionsprojekt auf der Zielgeraden endgültig zumStillstand gekommen ist. 

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