Hohe Arbeitszeit bringt Lehrer:innen an die Belastungsgrenze

Von
Vitali Borissov
|
12
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August 2022
|
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Hohe Arbeitszeit bringt Lehrer:innen an die Belastungsgrenze

Ein gängiges Vorurteil ist, dass Lehrer:innen an Nachmittagen und an Wochenenden prinzipiell frei hätten und dort ihre wohlverdiente Freizeit genießen können. Diesen Trugschluss gilt es aus der Welt zu schaffen. Denn ganz im Gegenteil: Eine Mehrzahl der Lehrer:innen arbeitet deutlich mehr als arbeitszeitrechtlich und tariflich vorgeschrieben. 

Eine Studie der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften der Georg-August-Universität Göttingen stellt heraus, dass mehr als die Hälfte der Lehrkräfte sogar mehr als die errechneten 47 Stunden in der Woche arbeiten. Vor allem an Gymnasien (62,3 Prozent) macht die Mehrheit der Lehrer:innen zusätzliche Überstunden. Zum Vergleich: Andere Beamte:innen haben grundsätzlich eine Arbeitszeit von 40 Wochenstunden.

Abende, Wochenenden und Ferien bedeuten nicht gleich Freizeit 

Zwar haben verbeamtete Lehrer:innen acht Wochen mehr Urlaub als andere Beamte:innen, allerdings ist dies nur auf dem Papier der Fall. Ferien bedeuten keineswegs zwangsläufig Urlaub. Korrekturen, Noteneintragungen, Nachprüfungen führen zu einem Arbeitspensum, welches nur in wenigen Fällen durch die zusätzliche Urlaubszeit aufgewogen werden kann.  Außerdem ist es weniger die Ausnahme als mehr die Regel, dass Lehrer:innen auch am Wochenende oder bis in die Nacht hinein arbeiten. In Wahrheit ist demnach der Arbeitstag einer Lehrkraft noch längst nicht beendet, nur weil sie das Schulgelände verlassen hat. 

Die Verteilung der Arbeitszeit

Tatsächlich kommen Lehrer:innen häufig bereits vor dem Unterricht in die Schule, um beispielsweise Material zu kopieren. Während der Pausen sind sie für Schüler ansprechbar. Nach dem Unterricht kann ein schülerbezogenes Gespräch zwischen zwei Lehrkräften auf dem Weg zum Auto stattfinden. Hierbei ist es äußerst schwierig den zusätzlichen Arbeitsaufwand zu berechnen. 

Hinsichtlich der Verteilung der Arbeitszeit lässt sich festhalten, dass nur die Unterrichtszeiten in Stein gemeißelt sind. Diese Deputatsstunden belaufen sich auf 22-28,5 Stunden je nach Schulform und Bundesland. Dies entspricht 35 Prozent der gesamten Arbeitszeit. Weitere 31,5 Prozent der  Stunden fallen für unterrichtsnahe Lehrarbeit an. Darunter sind Korrekturen sowie die Unterrichtsvor- und Nachbereitung zu verstehen. Besonders dieser Bereich wird gern ins traute Heim verschleppt. Des Weiteren machen die pädagogische Kommunikation, Sitzungen und Konferenzen weitere zehn Prozent aus. Diese waren nicht erst seit der Corona-Krise ebenfalls häufig von zuhause aus erledigt worden.   

Die Arbeitsbelastung im “Teilzeit-Home-Office” 

Noch bevor es in Mode kam oder zur Notwendigkeit wurde, haben Lehrer:innen große Teile ihres Aufgabenfeldes von zuhause aus erledigt. Beispiele hierfür sind telefonische Elterngespräche, virtuelle Lehrerkonferenzen, das Korrigieren von Klausuren und Noteneintragungen sowie die Unterrichtsvor- und Nachbereitung. 

Die Option, sich seine Arbeitszeit (abgesehen von den Deputatsstunden) frei einteilen zu können, ist vielerorts Fluch und Segen geworden. Schnell laufen Lehrkräfte Gefahr, dass die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen. Der Beruf vereinnahmt das Private. Tariflich vorgesehene Ruhephasen werden durch das hohe Arbeitspensum nicht ausreichend in Anspruch genommen. Durch fehlende Ruhezonen an den Schulen lässt sich die Belastung auch vor Ort nicht reduzieren. Dies führt dazu, dass es den überforderten Lehrer:innen nicht mal mehr möglich ist, in den eigenen vier Wänden abzuschalten. Hierdurch leiden auch die Ferien, welche ursprünglich dafür gedacht sind, die Mehrarbeit auf natürlichem Wege auszugleichen. 

Gesundheitliche Auswirkungen der Arbeitsbelastung 

Die vom Deutschen Philologenverband (DPhV) in Auftrag gegebene Studie „Lehrerarbeit im Wandel“ hat die Antworten von über 20.000 Lehrkräften an Gymnasien bezüglich ihrer Arbeitsbelastung untersucht. Die vom Institut für Präventivmedizin der Universitätsmedizin Rostock durchgeführte und ausgewertete Studie kam zu dem Ergebnis, dass die lange Arbeitszeit (nebst der Zunahme an außerunterrichtlichen Aufgaben­) der führende Grund für berufliche Unzufriedenheit ist. 

Mögen Lehrkräfte auf dem Papier mehr Urlaubstage haben, muss von Fall zu Fall entschieden werden, inwiefern die geleistete Mehrarbeit hierdurch aufgewogen wird. Schließlich arbeiten viele der Lehrkräfte weniger als die durchschnittlichen 47 Stunden. Die allgemeine Lehrergesundheit spricht jedoch Bände. Weil sie im Durchschnitt eine Mehrarbeit von fünf bis zehn Stunden leisten, fehlen die freien Stunden, welche für eine ordentliche Regeneration vonnöten wären. Außerdem bleibt keine Zeit für Projekte oder eine kreative Unterrichtsgestaltung, da sie mit dem üblichen Trott bereits völlig in Anspruch genommen werden. 

In welche Richtung wird es in Zukunft gehen? 

Legt man den Finger in die Wunde, so kann man dieses System als eines bezeichnen, welches auf chronischer Überbelastung der Lehrkräfte basiert, denen die reelle Gefahr beruflicher Unzufriedenheit droht, welche bis hin zu einem Burnout führen kann. Demnach stoßen Vorschläge wie der des Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne)  bei vielen Lehrer:innen auf Unbehagen. 

Im April 2022 hat er für längere Arbeitszeiten für Lehrkräfte (vor allem für jene in Teilzeit) plädiert. Nachdem dieser Vorstoß unter viel Kritik abgewiesen wurde, ließen Kultusministerin Theresa Schopper und Winfried Kretschmann sich zu einem Bittbrief an alle Lehrkräfte im Südwesten hinreißen. Darin heißt es unter anderem: „Bitte überlegen Sie sich doch, ob Sie nicht im kommenden Schuljahr eine, zwei oder vielleicht sogar drei zusätzliche Stunden unterrichten können. Oder ob Sie Ihren anstehenden Ruhestand noch etwas hinausschieben und uns als Pensionärin oder Pensionär unterstützen können.“

Ob die Grundbelastung durch Deputatsstunden zu erhöhen, wodurch unter anderem nochmal Stunden der Vor- und Nachbereitung anfallen, der richtige Weg ist, sei dahingestellt.  

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