Krisenjahr Bildung? Ein Rückblick auf die Bildungspolitik 2024

ehemalige Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger und Nachfolger Cem Özdemir

Blick zurück: Bildungspolitische Herausforderungen und Fortschritte im Jahr 2024 (Quelle: Creative Commons / Creative Commons)

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, und der bildungspolitische Rückblick im Jahr 2024 zeigt ein klares Bild: Das deutsche Bildungssystem steht vor großen Herausforderungen. Von alarmierenden Ergebnissen internationaler Bildungsstudien über massive Personalengpässe und marode Schulgebäude bis hin zu den Chancen und Grenzen der Digitalisierung – die Probleme sind vielfältig und vor allem dringlich. Gleichzeitig gab es bedeutende Initiativen wie das Startchancen-Programm, den Digitalpakt 2.0 und die Einführung neuer Maßnahmen zur Bekämpfung des Lehrkräftemangels. Ein Blick zurück zeigt, welche Weichen gestellt wurden und wo noch großer Handlungsbedarf besteht.

Bildungsstudien: Das Bildungssystem unter Druck

Die im Jahr 2024 veröffentlichten Bildungsstudien untermauerten die bestehenden Probleme im deutschen Bildungssystem und gaben Einblicke in zentrale Herausforderungen. Darüber hinaus haben sie dringenden Handlungsbedarf in Bereichen wie Ausstattung, Förderung und Entlastung aufgezeigt (Lehrer News berichtete). 

Die TIMSS 2024 (Trends in International Mathematics and Science Study) hat gezeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich schwächer abschneidet und Kinder die Mindestanforderungen nicht erreichen. Besonders kritisch: Der starke Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg bleibt ein zentrales Problem. Demnach erhalten Schüler:innen aus sozioökonomisch schwachen Familien trotz gleicher Leistungen deutlich seltener eine Gymnasialempfehlung. Dies verdeutlicht die anhaltenden Probleme bei der Chancengleichheit und zeigt, dass Klassismus im Klassenzimmer nach wie vor ein Hindernis für faire Bildungschancen ist und strukturelle Benachteiligungen weiter fortbestehen (Lehrer News berichtete). 

Die Studie ICILS 2024 (International Computer and Information Literacy Study) offenbarte alarmierende Rückschritte bei den digitalen Kompetenzen deutscher Schüler:innen. Hauptgründe dafür sind die weiterhin mangelhafte IT-Infrastruktur und die schleppenden Fortschritte bei der Digitalisierung der Schulen. Die Studie zeigt auch, dass Deutschland bei der Vermittlung von Medienkompetenz im internationalen Vergleich hinterherhinkt.

Das Deutsche Schulbarometer 2024 beleuchtete die aktuelle Situation an deutschen Schulen und zeigte, dass etwa 21 Prozent der 8- bis 17-Jährigen unter psychischen Problemen leiden. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Lehrkräfte oft überfordert und emotional erschöpft sind, da es an Schulpsycholog:innen und unterstützendem Personal mangelt. Zudem gab fast die Hälfte der Lehrkräfte an, dass es an ihrer Schule zu physischer oder psychischer Gewalt kommt. 

Die OECD-Studie 2024 “Bildung auf einen Blick” hat erneut auf die hohe Arbeitszeitbelastung und den Lehrkräftemangel in Deutschland hingewiesen. Dies trägt nicht nur zur Überlastung der Lehrkräfte bei, sondern beeinträchtigt auch die Qualität des Unterrichts.

Insgesamt zeigen diese Studien die wichtigsten Probleme im deutschen Bildungssystem auf: mangelnde Chancengleichheit, Rückschritte bei digitalen Kompetenzen, psychische Belastungen und die Überlastung der Schüler:innen und Lehrkräfte. Sie machen auch deutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um die Qualität der Bildung nachhaltig zu sichern.

Startchancen-Programm: Zwischen Kritik und Potenzial

Das Startchancen-Programm des BMBF fördert Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler:innen, um Chancengerechtigkeit zu stärken und den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Mit einem Budget von 20 Milliarden Euro über zehn Jahre sollen rund 4.000 Schulen unterstützt werden. Schwerpunkte liegen auf der Stärkung von Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen, einer besseren Infrastruktur sowie die Förderung multiprofessioneller Teams. Ziel ist es, die Zahl der Schüler:innen, die Mindeststandards verfehlen, deutlich zu senken und langfristig bessere Bildungsbiografien zu ermöglichen. Bis August 2024 sind bereits mehr als 2.100 Schulen gestartet.

Kritiker:innen bemängeln, dass nur 10 Prozent der Schüler:innen profitieren, obwohl 20 Prozent als armutsgefährdet gelten (Lehrer News berichtete). Auch der Sanierungsbedarf von 45 Milliarden Euro bleibt unberücksichtigt. GEW und die Landesschülervertretung begrüßen die zielgerichtete Förderung, sehen aber Nachholbedarf bei Digitalisierung, Lehrkräftemangel und Instandsetzungen. Trotz Kritik wird es als bedeutender Schritt für mehr Bildungsgerechtigkeit und als “Gamechanger” gesehen, der allerdings besser finanziert und langfristig ausgebaut werden müsse.

Trotz der Kritik ist das Startchancen-Programm ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung, um Bildungsgerechtigkeit zu fördern und sozial benachteiligte Schüler:innen nicht durch das Raster fallen zu lassen, sondern gezielt zu unterstützen. Strukturelle Defizite können also mit politischem Willen durchaus angegangen werden, auch wenn noch große Herausforderungen zu bewältigen sind.

Das BMBF und die Fördermittelaffäre: Ein Jahr voller Kontroversen

Im Jahr 2024 war im Bundesbildungsministerium (BMBF) einiges los: Die Fördermittelaffäre sorgte für erhebliche Kontroversen und Diskussionen über Transparenz und Wissenschaftsfreiheit (Lehrer News berichtete). Auslöser war ein offener Brief von Wissenschaftler:innen zum Nahostkonflikt, der eine Liste der Unterzeichner:innen sowie eine Prüfung von Fördergeldern nach sich zog. Kritiker:innen sahen darin einen Versuch, konträre Stimmen unter Druck zu setzen. 

Veröffentlichte Chatprotokolle aus dem Ministerium zeigten, dass Ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und ihr Staatssekretär Roland Philippi (FDP) die Situation intern diskutierten. Philippi deutete in den Chats an, dass die Einschüchterung von Wissenschaftler:innen durch drohende Streichungen der Fördermittel ein gewünschter Nebeneffekt sein könnte. Die Ministerin unterband diese Diskussion nicht, was zu weiterer Kritik und Rücktrittsforderungen führte.

Zusätzlich geriet das Ministerium wegen der Nutzung des Messenger-Dienstes Wire in die Kritik, da diese Plattform offenbar gezielt genutzt wurde, um Kommunikationsvorgänge nicht dokumentieren zu müssen, was die Transparenzpflicht verletzte. Ein Gericht untersagte die Löschung der Chats, nachdem Journalist:innen die Offenlegung beantragt hatten.

Die Affäre verdeutlichte 2024 nicht nur die angespannte Lage zwischen Wissenschaft und Politik, sondern hat auch grundsätzliche Fragen nach dem Umgang mit kritischen Stimmen und der Einhaltung von Transparenzvorschriften aufgeworfen. Sie ist somit ein wichtiges Kapitel im bildungspolitischen Diskurs dieses Jahres.

Digitalpakt 2.0: Einigung erreicht, Umsetzung ungewiss

Nachdem Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Zuge des Bruchs der Ampel-Koalition zurückgetreten war, obwohl sie zuvor einen immer wieder geforderten Rücktritt im Zusammenhang mit der Fördermittelaffäre konsequent abgelehnt hatte, wurde Cem Özdemir (Grüne) ihr Nachfolger (Lehrer News berichtete).

Nach über einem Jahr Verhandlungen wurde unter dem neuen Bundesbildungsminister Özdemir endlich der Digitalpakt 2.0 beschlossen (Lehrer News berichtete). Bund und Länder stellen bis 2030 insgesamt fünf Milliarden Euro bereit, um die digitale Infrastruktur auszubauen, Lehrkräfte weiterzubilden und die Qualität digitalen Unterrichts zu verbessern. Trotz weniger Mittel und Zugeständnissen, wie dem Verzicht auf verpflichtende Fortbildungen, gilt die Einigung als wichtiger Schritt für die Digitalisierung der Schulen und als positives Signal für den Bildungsföderalismus.

Ob der neue Digitalpakt jedoch tatsächlich umgesetzt wird, hängt allerdings von der künftigen Bundesregierung ab, die im Februar gewählt wird. Dies betonte auch Özdemir und wies darauf hin, dass die Einigung unter dem Vorbehalt künftiger Haushaltsbeschlüsse stehe. 

Lehrkräftemangel: Schulen am Limit, Politik in der Pflicht

Der Lehrkräftemangel blieb auch 2024 eine der größten Herausforderungen im deutschen Bildungssystem und erforderte dringend wirksame Lösungen, um den Unterrichtsausfall zu reduzieren und Schulen zukunftsfähig aufzustellen.

In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hat der Lehrkräftemangel zu erheblichen Unterrichtsausfällen geführt (Lehrer News berichtete). In Niedersachsen blieben zahlreiche Stellen unbesetzt, was die Förderung von Schüler:innen mit besonderen Bedürfnissen erschwert. Auch in Nordrhein-Westfalen bleiben trotz neu geschaffener Stellen rund 6.000 Stellen unbesetzt. Die Integration von geflüchteten Kindern und Schüler:innen mit Förderbedarf verschärfte die Situation zusätzlich. In Berlin fehlen für das Schuljahr 2024/2025 695 Lehrkräfte in Vollzeit, trotz 2.000 ausgebildeten Quereinsteiger:innen (Lehrer News berichtete). 

Aufgrund der anhaltenden Probleme hat die KMK für 2024 zusätzliche Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel beschlossen. Geplant sind neue Qualifizierungswege wie das Ein-Fach-Lehramt, duale Lehramtsstudiengänge und ein Quereinstiegs-Master. Ziel ist es, den Zugang ins Lehramt flexibler und praxisorientierter zu gestalten. Die Maßnahmen basieren auf wissenschaftlichen Empfehlungen und sollen die Attraktivität des Lehrberufs erhöhen, ohne die Qualität der Ausbildung zu gefährden. Maßnahmen wie diese ergänzen bisherige Initiativen wie die Ausweitung von Studienplatzkapazitäten sowie Quer- und Seiteneinstiegsprogramme.

Mit der Wahl von Katharina Günther-Wünsch (CDU) zur neuen Präsidentin der KMK wurde ein weiterer Fokus auf die Bekämpfung des Lehrkräftemangels gelegt (Lehrer News berichtete). Günther-Wünsch, die seit 2021 bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion in Berlin ist und eine langjährige Karriere als Pädagogin vorweisen kann, betonte die Notwendigkeit innovativer und praktikabler Lösungen für dieses Problem. Sie sieht die Bekämpfung des Lehrkräftemangels als eine der wichtigsten Aufgaben und fordert ein bundeseinheitliches Vorgehen. 

Sanierungsstau 2024: Deutschlands marode Schulgebäude im Fokus

Der Zustand der Schulgebäude und der Sanierungsstau bleiben auch 2024 ein zentrales Problem (Lehrer News berichtete). Laut KfW-Kommunalpanel 2024 besteht für Schulgebäude ein Investitionsbedarf von rund 54,8 Milliarden Euro – ein Anstieg um 7,3 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr. Damit übertrifft der Sanierungsbedarf der Schulen sogar den des Straßenbaus. Die finanziell oft überforderten Kommunen können staatliche Fördermittel häufig nicht abrufen, weil sie die erforderlichen Eigenmittel nicht aufbringen können.

Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnte vor den Auswirkungen maroder Schulgebäude auf den Lernerfolg und die Gesundheit der Schüler:innen. Auch André Berghegger, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, forderte einfache, unbürokratische Förderprogramme, die Neubauten, Sanierungen und Digitalisierung gleichermaßen fördern. Ohne mehr Unterstützung von Bund und Ländern droht der Investitionsrückstand weiter zu wachsen.

Künstliche Intelligenz: Leitlinien für den Bildungsbereich

Die KMK hat in diesem Jahr Handlungsempfehlungen zum Einsatz von KI im Bildungsbereich veröffentlicht. Dabei wird insbesondere der Nutzen für die Schulverwaltung und den Unterricht hervorgehoben. Besonders betont werden außerdem der ethisch reflektierte Umgang mit KI, die Anpassung der Prüfungskultur sowie die Professionalisierung der Lehrkräfte für einen souveränen Umgang mit neuen Technologien. Darüber hinaus wird die Chancengleichheit thematisiert, um den Zugang zu KI-basierten Anwendungen für alle Lernenden zu gewährleisten und bestehende Ungleichheiten zu überwinden.

Auch die Hamburger Schulbehörde hat gemeinsam mit der Kompetenzstelle KI des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung und dem Artificial Intelligence Center Hamburg Leitlinien für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Schule entwickelt (Lehrer News berichtete). Die digitalen Leitlinien bieten Lehrkräften Orientierung zu den Funktionen, Anwendungen und rechtlichen Rahmenbedingungen von KI, wobei die Förderung von Lernprozessen und der verantwortungsvolle Umgang mit der Technologie im Vordergrund stehen.

Ganztagsbetreuung: Zwischen Anspruch und Realität

Bereits am 12. Oktober 2021 ist das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) in Kraft getreten, das einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder festlegt. Der Anspruch gilt für Kinder der ersten bis vierten Klasse und wird ab dem Schuljahr 2026/2027 schrittweise eingeführt. Die Betreuung umfasst acht Stunden täglich an fünf Werktagen und schließt die Schulferien ein. 

Die Umsetzung dieses Rechtsanspruchs stößt jedoch in einigen Bundesländern auf erhebliche Hürden (Lehrer News berichtete). In Baden-Württemberg musste aufgrund fehlender finanzieller Mittel ein Losverfahren eingeführt werden, um über die Vergabe der Fördermittel zu entscheiden. Viele Kommunen, die bereits in den Ausbau investiert haben, bangen nun um die zugesagten Zuschüsse und kritisieren die Landesregierung scharf.

Ein weiter Weg: Ausblick auf das Bildungsjahr 2025

Das Jahr 2024 hat die Schwachstellen des deutschen Bildungssystems schonungslos offengelegt. Trotz zahlreicher Initiativen wie dem Startchancen-Programm, dem Digitalpakt 2.0 und Maßnahmen gegen den Lehrkräftemangel bleibt es noch ein weiter Weg. 

Für das kommende Jahr gilt daher, Wege, die zu einer Verbesserung führen, konsequent weiterzugehen, strukturelle Defizite abzubauen und dringend notwendige Reformen umzusetzen. Ob die eingeleiteten Maßnahmen den gewünschten Erfolg bringen, wird sich 2025 zeigen – ein Jahr, das neue Antworten auf wichtige Fragen der Bildungslandschaft geben muss.

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