Der lange Weg zur Inklusion – Ein historischer Blick auf die Beschulung von Menschen mit Behinderung

Der lange Weg zur Inklusion – Ein historischer Blick auf die Beschulung von Menschen mit Behinderung

“Viele Blumen ergeben einen Strauß.” Wir alle kennen dieses Sprichwort, das eine schöne Metapher für den Wert der Vielfalt und der Inklusion für unser soziales Miteinander ist. Inklusion ist mittlerweile ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. Sie ist die Grundlage für Vielfalt und Heterogenität. Sie schafft neue Perspektiven, schafft Verbesserungen, wo man bereits von erschöpften Potenzialen ausgeht. In der Praxis ist  Inklusion in der Schule jedoch kein einfacher Prozess und ist auch eine Frage von Personal und Finanzierung. In unserer neuesten Themenwoche Inklusion wollen wir einen umfassenden Blick auf das Thema werfen. Dabei soll der Fokus auf der Schule als inklusiven Ort für Menschen mit Behinderung liegen. Bevor wir aber anfangen, über die gegenwärtige Situation zu berichten, ist es sinnvoll, die Geschichte zu betrachten. Denn ohne historisches Hintergrundwissen ist ein differenziertes Bild und eine ausführliche Einordnung der heutigen Lage kaum möglich.

Erste Schritte: Inklusion im 19. Jahrhundert

Bis ins späte 19. Jahrhundert blieb Menschen mit Behinderung der Zugang zu Bildung in der Regel komplett verwehrt, und auch Personen ohne Behinderung, aber mit tiefergreifenden sonderpädagogischen Bedürfnissen wurde die Teilnahme am regulären Schulbetrieb verweigert. Diese Ausgrenzung erstreckte sich auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und war mehr eine logische Konsequenz des damaligen gesellschaftlichen Denkens, als eine punktuelle Ausgrenzung einer Minderheit. Ein erster Lichtblick sollte 1880 geschehen. Es kam zur Einführung der ersten Sonderschule für Schüler:innen mit Lernbehinderung. Derartige Schulen blieben jedoch eher eine Seltenheit und waren sie zwar ein probates Mittel gegen Exklusion, führten sie doch zu Separation.

“Aktion T4”: Genozid in der NS-Zeit

Während sich die Situation für Schüler:innen mit Behinderung in den Folgejahren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Weimarer Republik nicht wirklich besserte, kam es mit der Machtergreifung Hitlers zu der menschenverachtenden und schrecklichen Verfolgung. Das NS-Regime verabschiedete 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Zwei Jahre später folgte das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes“. Diese Gesetze waren die „rechtliche Legitimation“ für das später startende Euthanasieprogramm, das für die fürchterliche Ermordung unzähliger Menschen mit Behinderung sorgte. In Krankenhäusern und Pflegeanstalten wurden „Kinderfachabteilungen“ installiert, in denen grausame medizinische Experimente durchgeführt worden sind, die immer im Mord endeten. Die heute unter dem Begriff “Aktion T4” bekannten Morde fanden unter der Begründung der „Reinigung des deutschen Volkskörpers“ statt. Insgesamt wurden in diesem Rahmen  200.000 Menschen ermordet.

Die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren war einer der zahlreichen Orte, an denen die Nazis den Genozid an Behinderten Menschen begangen haben (Quelle: Commons)

Von den Sonderschulen bis zur UN-Behindertenrechtskonvention 

In den 1960er-Jahren wurden Sonderschulen wieder verstärkt ausgebaut. Kinder mit Behinderung oder sonderpädagogischen Bedürfnissen sollten unterrichtet werden, wurden aber – wie im 19. Jahrhundert – getrennt von Schüler:innen ohne Behinderung betreut und unterrichtet. Nachdem sich zwischen 1960 und 1973 die Zahl der Sonderschulen verdoppelt hat, sollten die Kinder wieder zusammengeführt werden, da die schulische Trennung auch immer wieder die Unterschiedlichkeit der Schüler:innen hervorhob. Nach der Separation sollte jetzt ein integrativer Kurs im Umgang mit Schüler:innen mit Behinderung gefahren werden. Das bedeutet, dass die Kinder nun an den gleichen Schulen unterrichtet wurden, sich jedoch an das bestehende System anpassen mussten. Die individuellen Bedürfnisse der Kinder wurden toleriert, aber in der Gestaltung des Schulalltags nicht berücksichtigt.

1994 fand daraufhin in Salamanca – einer spanischen Stadt – eine UNESCO-Konferenz zum Thema „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ statt. Hier wurde Inklusion erstmals als zentrales Thema der internationalen Bildungspolitik deklariert.

Der nächste große Schritt zur inklusiven Schule in Deutschland fand 2009 statt, als die Bundesrepublik die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieb. Sie verlangt von den Mitgliedstaaten, ein inklusives Schulsystem zu etablieren, indem Menschen mit Behinderung „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“

Seit dem 19. Jahrhundert vollzog sich also eine Entwicklung von einer Schule, die Menschen mit Behinderung systematisch exkludiert, zu einem Status quo, der Menschen mit Behinderung auf dem Papier inkludiert und teilhaben lässt. Wie es sich derzeit mit dem Thema im Detail verhält, erörtern wir morgen in einem weiteren Artikel im Rahmen unserer Themenwoche.

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