DPhV-Vorsitzende formuliert Forderungen für das neue Jahr an die Kultuspolitik

DPhV-Vorsitzende formuliert Forderungen für das neue Jahr an die Kultuspolitik

Die Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Susanne Lin-Klitzing warnt vor falschen Rückschlüssen – etwa aus den neuen Ergebnissen der Pisa Studie. (Quelle: Deutscher Philologenverband)

Den Jahreswechsel nehmen wir bei Lehrer News zum Anlass, einen Blick auf das kommende Jahr zu werfen: Was wird 2024 in der Bildung wichtig? Welche Themen sind gesetzt, was muss sich bewegen? Wir lassen die Verbände und Akteure selbst zu Wort kommen. In diesem Gastbeitrag der Bundesvorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing. 

Forderungen an die Politik

In der Wahrnehmung vieler endete das Jahr 2023 mit einem Paukenschlag: PISA! Die Ergebnisse sind weltweit betrachtet so schlecht wie nie, die PISA-Forscher machen dafür u.a. Corona verantwortlich, und manch einer fordert in Deutschland mal wieder reflexhaft die vermeintlich ganz große Bildungsrevolution mit der immer gleichen „konstruktiven“ Forderung, die dann die Leistung aller Schülerinnen und Schüler verbessern soll, nämlich die nach der Abschaffung des Gymnasiums. Für diejenigen, die sich differenziert mit dem Bildungssystem und PISA beschäftigen, wäre ein versachlichter Umgang mit möglichen Konsequenzen aus den vorliegenden Daten schon ein echter Gewinn für das neue Jahr. 

Die Autoren der OECD-Studie äußern sich erfreulicherweise gleich selbst dazu in ihrem Berichtsband “PISA 2022 Ergebnisse” und weisen wissenschaftlich darauf hin, dass “12 Prozent der Varianz der Mathematikleistungen auf Unterschieden zwischen Bildungssystemen” entfallen (S. 71). Fast 90 Prozent der Unterschiede beruhen also auf anderen Faktoren. Da die geforderten Konsequenzen aus PISA in der Regel sowieso in einem zweifelhaften Zusammenhang mit PISA stehen, wären meine Forderungen für die Kultuspolitik eher folgende:

  1. Um guten Unterricht zu sichern, halten Sie die Mehrheit der Bestandslehrkräfte im System, und da diese in die Jahre gekommen sind, halten Sie diese u.a. mit deutlichen Altersermäßigungen, damit sie länger im System verbleiben. Doch dazu unten mehr und ausführlich. 
  1. Betreiben Sie keine Rosinenpickerei mit dem Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission zur Lehrkräftegewinnung und zum Lehrkräftemangel! Hier sehe ich gleich zwei dramatische Einfallstore. Das erste Einfallstor: Der Vorbereitungsdienst wird für die Referendarinnen und Referendare in manchem Bundesland gleich noch weiter gekürzt, weil dies für die dortige Realpolitik kurzfristig früher voll unterrichtende Lehrkräfte erbringt. Das zweite Einfallstor: Die vernünftige Zusammenschau aller drei Phasen der Lehrkräftebildung wird dazu führen, dass insbesondere die Fachwissenschaften in der ersten Phase an der Universität ausgedünnt - mit „Praxis“ für die Studierenden gefüllt, in Wirklichkeit aber für die Unterrichtsabdeckung genutzt  – und in die dritte Phase transferiert werden. Damit gingen sie dann angeblich nicht verloren. Dies wird als Erfolg gefeiert, weil nun endlich alle drei Phasen zusammengedacht werden, ohne zu bedenken, dass die dritte Phase der Lehrkräftebildung eine berufslange, sozusagen „unendlich“ lange Phase ist, die redlich nicht mit der Anteilen aus der zeitlich deutlich begrenzteren ersten Phase gefüllt werden kann. Aus meiner Perspektive führt eine solche nicht unwahrscheinliche Rosinenpickerei letztlich zu einer inhaltlichen Ausdünnung der fachlichen Lehrkräftebildung insgesamt, zusätzlich zu einer Verkürzung des Vorbereitungsdienstes.
  1. Führen Sie keine aus meiner Sicht unsinnige Schulart-Debatte, sondern schauen Sie als erstes u.a. differenziert auf die PISA-Daten, aber nicht nur auf sie, und verbessern Sie die Rahmen- und Arbeitsbedingungen für alle an Schule Beteiligten. Denn schlussendlich werden in PISA völlig unterschiedliche Schulsysteme (und auch Gesellschaften!) miteinander verglichen, die PISA-Aufgaben, an denen wir für Verbesserungen viel lernen könnten, sind größtenteils nicht einsehbar, und zudem fokussiert PISA auf ausgewählte Kompetenzen, bei denen – weil nicht intendiert –  eine individuelle Fortschrittsberichterstattung auf der Strecke bleibt. Und gerade diese wäre wichtig. Über die PISA-Fokussierung hinaus muss der bedrängende Lehrkräftemangel nachhaltig und qualitätsorientiert angegangen werden, und zwar ohne einen Verlust an fachlicher Bildung, Lehrkräfte müssen von unterrichtsfernen Aufgaben entlastet werden, qualifiziert fortgebildet und dafür freigestellt werden. Das Beherrschen der deutschen Sprache muss neu im Zentrum der Bildungspolitik stehen – für alle. 

U.a. Zeit-Online intonierte die Schulart-Debatte am 5.12.23 mit dem uns seit langer Zeit medial bekannten „Niedergang des Gymnasiums“. Betrachtet man nüchtern die in PISA untersuchten Kompetenzen in Abhängigkeit von der besuchten Schulart, erreichen die deutschen Schülerinnen und Schüler bei den mathematischen Kompetenzen am Gymnasium im Durchschnitt 546 Punkte und an den nicht-gymnasialen Schularten 438 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den die OECD-Skala anführenden drei Ländern betragen für Japan 536 Punkte, für Korea 527 und für Estland 510 Punkte. 

Bei den naturwissenschaftlichen Kompetenzen werden am Gymnasium im Durchschnitt 570 Punkte erreicht, an den nicht-gymnasialen Schularten 454 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den drei die OECD-Skala hier anführenden Ländern betragen für Japan 547 Punkte, für Korea 528 und für Estland 526 Punkte. 

Bei den Lesekompetenzen werden am Gymnasium im Durchschnitt 556 Punkte erreicht, an den nicht-gymnasialen Schularten 442 Punkte. Die erreichten Mittelwerte in den drei die OECD-Skala hier anführenden Ländern betragen für Irland 516 Punkte ebenso wie für Japan, und für Korea 515 Punkte.

Zusammenhängend betrachtet schneiden die hier untersuchten deutschen Gymnasiasten also nicht nur nicht schlechter als die Schülerinnen und Schüler der führenden OECD-Staaten ab, sondern in Teilen sogar besser. Dabei werden von mir die Durchschnittswerte aus den Gymnasien mit den Durchschnittswerten der führenden OECD-Staaten aller Schülerinnen und Schüler verglichen. Dabei ignoriere ich nicht, dass mit fokussiertem Blick nur auf das Gymnasien und unabhängig von den Zeitumständen, die Leistungen an den Gymnasien seit der letzten Erhebung gesunken sind. Und auch nicht, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den unteren Kompetenzstufen zugenommen hat. Aber zu erwarten wäre, dass in der losgetretenen Debatte die Relationen berücksichtigt werden: Im Vergleich zu den anderen Schularten ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den unteren Kompetenzstufen gering und die Leistungen der Gymnasien sind gemäß den PISA-Daten auf dem Niveau der OECD-Spitze. 

Ich glaube, wir haben insgesamt betrachtet dringendere Baustellen, als den „Niedergangs-Blick“ auf das Gymnasium zu kultivieren. Mein Blick fällt hier insbesondere auf die Mehrheit der Kollegen und Kolleginnen, die Babyboomer, auf diejenigen, die unser Bildungssystem stabilisieren, die solide ausgebildet wurden, die unterrichten können und die für die Schülerinnen und Schüler allein deshalb möglichst lange erhalten bleiben sollten, ebenso wie für die nachfolgenden Lehrkräfte, die sie unterstützen und beraten können, sofern ihnen dazu die Gelegenheit gegeben wird. Dazu ließe sich ein Impuls aus dem SWK-Gutachten positiv für alle erfahrenen wie zukünftigen Lehrkräfte aufgreifen: Wir brauchen nämlich mehr Anstrengungen für den Erhalt der Arbeitskraft erfahrener Lehrkräfte. Zudem wäre es fahrlässig, ihr Potential aus langjähriger Berufserfahrung nicht besser für die jungen Lehrkräfte auszuschöpfen. Deutschlandweit wurden 17% der pensionierten Lehrkräfte wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand entlassen. 59% ließen sich vorzeitig pensionieren und nur 21% erreichten die gesetzliche Altersgrenze.

Damit der Großteil der Lehrkräfte länger im aktiven Dienst bleiben kann, muss die Altersermäßigung deutlich erhöht werden. Wenn Lehrkräfte ab 55 Jahren zwei Stunden, ab 60 vier Stunden und ab 62 sechs Stunden Altersermäßigung bekämen, ist meine Hypothese, dass eine große Zahl deutlich länger im Dienst bleiben würde.

Wer also bis zur Regelaltersgrenze arbeitet, muss ab 63 Jahren für dasselbe Geld nur noch mit einem Dreiviertel-Unterrichtsdeputat unterrichten. Lehrkräfte werden dadurch länger im Dienst gehalten. In der verbleibenden vollen Arbeitszeit sollen diese Lehrkräfte neue Kollegen und Kolleginnen, Quer- und Seiteneinsteiger unterstützen, immer noch nötige Verwaltungsaufgaben übernehmen oder Reisen und Veranstaltungen vorbereiten. Jüngere Lehrkräfte bekommen mehr Zeit für ihre eigentliche Kernaufgabe: den Unterricht. Und die Kollegen und Kolleginnen bleiben im Schuldienst – statt (vorzeitig) zu gehen. Außerdem muss die Altersteilzeitregelung, die derzeit nur für Schwerbehinderte gilt, auf alle verbeamteten und Arbeitnehmer-Lehrkräfte ausgedehnt werden, um die vorzeitige Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen zu verhindern.

Darüber hinaus muss in Zeiten des Lehrkräftemangels den 21% der Lehrkräfte, die mit Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand versetzt wurden, die Möglichkeit eingeräumt werden, freiwillig weiter unterrichten zu können. Deshalb sollte es keine Höchstgrenze für Zuverdienst geben. Dementsprechend ist umgehend die Zuverdienstgrenze für pensionierte Lehrkräfte auszusetzen, damit diese mit genau dem Stundenmaß eingesetzt werden können, wie es ihnen selbst möglich und der aktuell notwendigen Unterrichtsversorgung dienlich ist, ohne dass die Pensionäre deshalb finanzielle Einbußen erleiden. Und selbstverständlich darf es keinen Ausschluss von Pensionären bei Sonderzahlungen für Lehrkräfte geben. 

Last but not least: 

Die KMK sollte sich dazu durchringen, dass Deutschland sich an der TALIS-Studie beteiligt! (Dafür könnte man übrigens das Engagement in manch anderer Bildungsstudie überdenken) In der TALIS-Studie werden zahlreiche Lehrkräfte in OECD-Ländern über ihr Arbeitsleben in der Schule befragt. Die Erhebung untersucht viele Aspekte, angefangen bei den Rahmenbedingungen, beim schulischen Umfeld, der Art und Weise, wie Lehrkräfte untereinander Feedback geben, bis hin zu ihren Unterrichtsmethoden und ihrer Teilnahme an beruflicher Fort- und Weiterbildung. In der Vergangenheit sind viele Anstrengungen unternommen worden, die Leistungsentwicklung unseres Schulsystems für Schülerinnen und Schüler zu messen. Für Lehrkräfte war dies bisher leider kaum der Fall. Die TALIS-Studie bietet eine gute Möglichkeit, um den Ist-Zustand unseres Bildungssystems zu analysieren, bewährte Praktiken zu identifizieren und gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Lehrkräfte abzuleiten.

Hochqualifizierte und motivierte Lehrkräfte sind noch immer entscheidend für einen erfolgreichen Unterricht. Es wäre schön, wenn die Wertschätzung durch die Politik so groß wäre wie in weiten Teilen der Gesellschaft. Nicht nur finanziell, sondern auch im täglichen Umgang miteinander. Hätte ich nur einen Wunsch für 2024 frei – es wäre dieser. 

Wir bedanken uns bei Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing für ihren Beitrag und möchten hinzufügen, dass der Inhalt des Artikels nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wiedergibt. 

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