Wie soll die Schule von Morgen aussehen? Lehrer-News im Gespräch mit Heinz-Peter Meidinger und Susanne Lin-Klitzing

Wie soll die Schule von Morgen aussehen? Lehrer-News im Gespräch mit Heinz-Peter Meidinger und Susanne Lin-Klitzing

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Leon Noel Gärtner

Schulabgänger:innen sehen die aktuelle Bildungslage und sind verblüfft, wie sehr sich unser Schulsystem in den letzten Jahren verändert hat. Die Corona-Pandemie hat ihren Teil dazu beigetragen, doch der Reformbedarf sitzt tief. In unserer Themenwoche “Zukunft der Bildung” möchten wir euch diese Woche einen Ein- und Ausblick auf die Schule von Morgen geben. Was braucht es, um die Schulen in Deutschland fit für die Zukunft zu machen? Der Präsident des deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, und die  Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing, haben dazu einige Vorstellungen. “Lehrer News” hat zu diesem Thema mit beiden gesprochen.

Susanne Lin-Klitzing

Erstrebenswerte Schule

Welche Ideale sollte die Bildung der Zukunft anstreben? Welche Vorstellungen sollten wir in die Zukunft tragen, um die Bildung in Deutschland für zukünftige Generationen zu verbessern?

Meidinger hat sein Ideal der Schule von Morgen bereits: “Eine gute und wertvolle Schule ist eine Bildungseinrichtung, die sehr gute Lernerfolge erzielt, an der individuelle Förderung nicht nur ein Schlagwort sondern gelebte Realität ist, an der für vielfältige Interessen und Begabungen Angebote vorhanden sind, an der ein gutes Schulklima herrscht, bei dem man sich auf Augenhöhe begegnet und wo man einen klar definierten Schulentwicklungsplan verfolgt.” Erfolg, Respekt, Vielfältigkeit und Klarheit sind seine Wünsche an die Schule. Lin-Klitzing fügt noch Sicherheit hinzu, dass die Schule ein geschützter Raum bleiben soll, “ein Ort der Ruhe, der Vertiefung, der Gründlichkeit, der realen Begegnung und der persönlichen Entwicklung”, besonders in einer sich stetig weiterentwickelnden, schnelllebigen und mental herausfordernden Welt.

Analoge und digitale Mittel sollen nutzbar gemacht werden, um die Welt auf eine Art und Weise zu erschließen, die Schüler:innen die Technik kontrollieren lässt und nicht selbst von der Technik kontrolliert werden.

Digitalisierung und Technik

Es ist absehbar, dass die Entwicklung der technischen Infrastruktur für die Digitalisierung  weiterhin zu einem dominanten Feld in der Bildungspolitik entwickeln wird. Der Digitalpakt war laut Lin-Klitzing ein wichtiger Schritt, benötigt jedoch effektivere Wege um die Mittel zu vergeben und sei zu kompliziert. Eine Ressourcenverschwendung, so bemängelt sie:

“Bis heute haben viele Schulen noch gar kein Geld aus dem Digitalpakt erhalten – also fast vier Jahre nach Inkrafttreten und ein Jahr vor dem Auslaufen! Die Antragsverfahren sind viel zu kompliziert. Es kann nicht sein, dass sich Lehrkräfte vor Ort eigene Lösungen basteln müssen. Wir brauchen nicht nur eine Fortsetzung und Verstetigung des Digitalpaktes, sondern auch ein kräftiges Update, einen Digitalpakt 2.0!”

Auch Meidinger will Verbesserung, weg vom einen Digitalpakt zum nächsten, hin zu einem verlässlichen Fundament. Er merkt aber an, dass Deutschland besser dastehe, als noch vor der Pandemie, auch wenn sich der Rückstand von bis zu 10 Jahren nicht in drei Jahren leicht aufholen lasse.

Ein Zukunftsthema ist auch die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz, wie sie jüngst durch durch ChatGPT popularisiert wurde. Obwohl KI einen Nutzen für die Lehrkräfte selbst bietet, bleiben offene Fragen beispielsweise in Bezug auf das Betrugspotenzial und den Datenschutz. Laut Meidinger sei dies jedoch grundsätzlich nichts Neues. Sich “fremder” Hilfe zu bedienen sei auch in der Vergangenheit vorgekommen. Zwar ist die KI ein weitaus spezifisches Mittel, und in der Lage, komplette Texte zu erstellen, jedoch kommt es bei der Bildung nicht nur auf Hausaufgaben an. Der Erarbeitungsprozess, um sich dem Wissen zu erschließen und Verständnisfragen zu Detailwissen zu stellen, ist dabei viel bedeutsamer. Meidinger zufolge ist die KI kein Ersatz für Lehrkräfte. Stattdessen könnte sie bei der individuellen Förderung unterstützen. Auch Lin-Klitzing erkennt an, dass es eine Welt ohne KI  nicht mehr geben wird. Stattdessen sollte der Prozess konstruktiv begleitet werden. Fortbildungen im Bereich ChatGPT im Unterricht sind bereits stark nachgefragt.

Pandemien

Die Corona-Pandemie hat deutliche Nachwirkungen und noch nie dagewesene Problematiken in der Bildung aufgezeigt, wie Isolation der Schüler:innen, psychische Probleme und Lernrückstände. Die Kultusministerkonferenz (KMK) war laut Meidinger schlichtweg nicht vorbereitet. Laut ihm ist eine Reform notwendig, mit einem unvermeidlichen Bildungsvertrag für die Vergleichbarkeit von Abschlüssen, auch wenn dies noch in der Ferne liegt. “Allein der Eiertanz um mehr Vergleichbarkeit beim Abitur ist ein Trauerspiel. Von einem bundesweit vergleichbaren Abitur in allen Bundesländern, so wie es das Bundesverfassungsgericht fordert, sind wir immer noch meilenweit entfernt”, sagt Meidinger.

Lin-Klitzing sieht auch einen weiterhin bewiesenen Mehrwert in der persönlichen Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler:innen. Der digital unterstützte Präsenzunterricht sollte zum Regelfall werden, in Verbindung mit qualifizierten Lehrkräften, praktischen Rechtsgrundlagen und psychologischer Unterstützung.

Lehrermangel

Ohne Lehrkräfte, keine Schule. Seit Monaten wird das Thema diskutiert, wobei auch bei uns zahlreiche Artikel Zeugnis ablegen, doch eine durchschlagende Lösung ist weiter nicht in Sicht.

Die bisherigen Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission sind dabei Lin-Klitzing zu Folge eher kontraproduktiv gewesen. Sie basierten auf falschen Daten und gingen an der Realität vorbei, so Lin-Klitzing. “Das Studium muss von Anfang an wieder klar auf den Beruf als Lehrkraft ausgerichtet sein, organisatorisch wie inhaltlich”, so Lin-Klitzing.

Meidinger weiß um die derzeit vorhandenen Notlösungen, mahnt allerdings die Politik, den Beruf langfristig nicht noch unattraktiver zu machen, zum Beispiel durch etwaige Arbeitszeiterhöhungen. Dennoch sieht er eine Lösung bei Rekrutierungsmaßnahmen. 

Heinz-Peter Meidinger
“Ich denke dabei an die Nachqualifizierung von Quereinsteigern, an die Flexibilisierung der starren Pensionierungsgrenzen für diejenigen, die noch freiwillig weiterarbeiten würden, wenn die Rahmenbedingungen stimmten.”

Der Beruf selbst muss auch attraktiver werden, da sind sich beide Expert:innen einig. Laut Lin-Klitzing nicht nur finanziell sondern auch betreffend der Rahmenbedingungen. “Wie soll denn jemand Lehrkraft werden und bleiben wollen, wenn die Gebäude heruntergekommen sind, die IT aus dem letzten Jahrhundert stammt und sich das eine Lehrerzimmer Dutzende Kolleginnen und Kollegen gleichzeitig teilen müssen?“. Auch eine Fokussierung der Pflichten von Pädagog:innen sollte folgen, so meint Lin-Klitzing und hinterfragt, warum Lehrkräfte immer noch mit der Organisation von Klassenfahren und Abrechnungen beauftragt werden, wenn das Nichtpädagogen erledigen könnten.

Internationaler Vergleich

Der Lehrkräftemangel wirkt sich laut Lin-Kitzing bereits auf Deutschlands Abschneiden im internationalen Vergleich z.B. im Rahmen der PISA-Erhebung aus. Langfristige Konzepte für kontinuierlich gute Absolventen sind besonders in MINT-Fächern gefordert – unter den aktuellen schulischen Rahmenbedingungen aber vielerorts nicht erreichbar. Auch ist ein disziplinierter Umgang zwischen Lehrkräften und Schüler:innen für sie wichtig und dessen Bedeutung muss bekannter sein.

Meidinger widerspricht allerdings komplett der Annahme, dass sich Deutschland so dramatisch verschlechtert hat in der PISA-Erhebung. Er bezieht sich dabei auf die stetigen Verbesserungen von Deutschlands Position im PISA-Vergleich von 2000 bis 2015 hinweg bis in die oberen Leistungsviertel. Zur selben Zeit haben die digital besser ausgerüsteten Länder wie Finnland ihren Vorsprung verloren. Seit einigen Jahren mag es einen Rückschlag geben, verstärkt durch Corona, unter anderem durch die wachsende Gruppe an leistungsschwachen Schüler:innen. Auch glaubt er, dass der Blick in andere Länder wenig hilft, mit der Bemerkung, dass nur asiatische Länder, definiert durch einen massiven Leistungsdruck und teure Privatschulen, sich verbessert haben. Stattdessen sollte Deutschland sich auf eine viel intensivere, umfassendere und verbindliche vorschulische Förderung fokussieren. “Kinder müssen, wenn sie eingeschult werden, dem Unterricht auch sprachlich folgen können”, so Meidinger.

Bewertungen und Hausaufgaben

Auch wenn das Notensystem einige Kritiker hat, so hält Meidinger nichts davon, die Noten selbst zu verurteilen. Laut Meidinger ist ein pädagogischer Umgang mit Zensuren unabdingbar, nicht ihre Abschaffung. Auch Hausaufgaben sieht er als prägend für die Halbtagsschulen Deutschlands und wünscht sich einen methodisch-didaktisch sinnvollen Umgang mit ihnen, mit dem Hintergedanken, Hausaufgaben als Mittel für Feedback über die Qualität des Unterrichts zu erhalten. Er verwies dabei auf die Ergebnisse einer Metatsudie von John Hattie, welche aufzeigen dass in der Sekundarstufe Hausaufgaben einen starken Effekt auf Lernerfolg haben (0,58) und zumindest einen mäßigen in der Grundschule (0,29). Den positiven Effekt sieht Lin-Klitzing ebenfalls als einen Teil der schulischen Erziehung und zur Förderung des  selbstorganisierten Arbeitens.

Inklusion

Meidinger widerspricht der Annahme, Deutschlands Bildungssystem sei sozial ungerecht, auch wenn es sich international im Mittelfeld befindet. “Trotzdem haben wir aber natürlich einen starken Verbesserungsbedarf”, so Meidinger, der hierbei zwei Ansatzpunkte sieht: Den Ausbau der vorschulischen Förderung, da aus Studien entnommen wird, dass die Leistungsspanne während der Schulzeit eher zu- als abnimmt. Des Weiteren eine verstärkte Unterstützung von Schulen mit sozial benachteiligter Schülerschaft, was der Zweck des Startchancenprogramm der Bundesregierung sein soll, dessen Start allerdings auf das Ende der Legislaturperiode verschoben worden ist.

Deutschlands Position im internationalen Mittelfeld sieht auch Lin-Klitzing, schätzt die Chancen für sozial benachteiligte Kinder nicht gut, aber auch “nicht hoffnungslos” ein. Länderübergreifende Mindeststandards könnten dagegen wirken, mit dem Anspruch, keine Niveaus zu unterschreiten. Auch hier sieht sie wieder die Ursache des Problems beim Lehrkräftemangel. 

Welche Fähigkeiten brauchen wir in der Zukunft?

Wenn es darum geht, was in der Welt von Morgen gebraucht wird, spricht man häufig von Qualitäten, die auch als 21th Century Skills bekannt sind, sowie unter den 8 Schlüsselkompetenzen der EU zusammengefasst werden.

Zu diesen gehören auch die “vier Ks”: Kommunikation, Kooperation, kritisches Denken und Kreativität. Diese müssten laut Lin-Klitzing im Fachunterricht stärker gefördert werden. Es wird mehr Wissen benötigt, nicht weniger, um kompetent mit Mitteln wie KI umzugehen. 

Meidinger hingegen sieht die acht Schlüsselkompetenzen der EU als besser geeignet an. Für ihn geht es bei den OECD weniger um Wissen und Inhalte. “Als kritisch, kreativ, kollaborierend und kommunikativ würde sich wahrscheinlich auch manche Querdenkerfraktion einschätzen, ohne dass das meiner Vorstellung von umfassender moderner Bildung nahekommt.”

Meidinger würde bei den Schlüsselkompetenzen eine andere Gewichtung wählen, um zu verdeutlichen, dass Kompetenz und eine intelligent vernetzte Wissensbasis zusammen gehören. 

“Es reicht eben nicht, sich Fakten einfach zusammenzugoogeln oder von der KI liefern zu lassen”, betont Meidinger. Ihm zufolge benötigt die Gesellschaft junge Menschen, die nicht nur ihre eigenen Lebenschancen wahrnehmen, sondern auch bereit sind, insgesamt Verantwortung zu übernehmen.

Wie die Schule von Morgen Realität sein wird, ist nicht in Stein gemeißelt. Es gibt zu viele Variablen zu bedenken und die Zukunft, wie in so vielen Teilen des Lebens, ist noch ungewiss. Es obliegt Politik und Gesellschaft, die Bildung der nächsten Generationen zu formen. Die Zukunft ist gefüllt mit zahlreichen Chancen, aber auch großen Herausforderungen, allen voran der Lehrermangel. Die Zeit zum Handeln ist jetzt: Denn die Visionen der Expert:innen  dürfen nicht nur Visionen bleiben.

Was erwartet ihr euch von der  Schule von Morgen? Schreibt uns eure Meinung gern in den Kommentaren!

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